Internet Statement 2008-02

 

 

Eine gekaufte Revolution oder ein gekaufter Journalismus?

Der „Spiegel“ rechnet mal wieder mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 ab

 

Walter Grobe  10.1.2008         

 

Im Dezember 2007 publizierte der „Spiegel“ die soundsovielte Abrechnung mit der russischen Oktoberrevolution und der kommunistischen Bewegung, aber dieses Mal sollte sie besonders wuchtig daherkommen.  Das Cover der Ausgabe vom 10.12.07 stellte Porträts von Lenin und dem seinerzeitigen deutschen Kaiser Wilhelm II. zur Schau zusammen mit dem Titel „Die gekaufte Revolution – Wie Kaiser Wilhelm II. Lenins Oktoberrevolution finanzierte“. In der nächsten Nummer erschien noch ein Fortsetzungsartikel unter „Nie war Russland käuflicher“. Parallel erschien auch ein Sonderheft unter dem Titel "Experiment Kommunismus - die russische Revolution und ihre Folgen". Interessant wäre eigentlich die Frage, welche politischen Befürchtungen den „Spiegel“  und die dahinter stehenden politischen Kreise umtreiben, sich jetzt derart verstärkt zu engagieren. Um neue Erkenntnisse geht es nämlich in den Artikeln absolut nicht, auch wenn der „Spiegel“ damit Reklame macht.

 

Da allerdings heute viele Menschen, insbesondere jüngere, von den geschichtlichen Fakten der russischen Oktoberrevolution wenig bis gar nichts mehr wissen, kann es nicht schaden, dieses Manöver des „Spiegel“ ein wenig zu durchleuchten, auch wenn es der älteste Kohl ist, der hier als neue wissenschaftliche Ergebnisse verkauft werden soll. Nehmen wir als Einstieg die Sätze, in denen der „Spiegel“ verkündet, worauf es ihm ankommt:

 

„Insgeheim freilich – und das wusste nur eine Handvoll Eingeweihte – endete mit dem Abbruch der Beziehungen auch das wohl eigenartigste politische Zweckbündnis des 20. Jahrhunderts: zwischen den russischen Revolutionären um Lenin und den deutschen Imperialisten um Wilhelm aus dem Hause Hohenzollern.Es war die Komplizenschaft ideologischer Todfeinde, betrieben voller Hinterlist und intriganter Raffinesse. Die Verschwörer schrieben Weltgeschichte: Ohne die Hilfe Wilhelms II. für Lenin hätte es die Oktoberrevolution vor nunmehr 90 Jahren so nicht gegeben. Mehr noch: Ohne deutsche Unterstützung hätten Lenins Bolschewiki das entscheidende erste Jahr an der Macht kaum überstanden. Vermutlich wäre keine Sowjetunion entstanden, den Aufstieg des Kommunismus hätte es dann nicht gegeben, auch die Millionen Gulag-Toten wären wohl nicht zu beklagen gewesen.”
(“Revolutionär seiner Majestät” Nr. 50/2007, 10.12.07)

 

Die Oktoberrevolution - letztlich ein Produkt von Subversionstaktik einer am I. Weltkrieg beteiligten imperialistischen Macht, Deutschland, gegen einen Kriegsgegner, das russische Zarenreich – fantasy statt Geschichte ist das Motto dieses armseligen Blättchens. Der Umsturz im Oktober 1917, „so“ nicht möglich gewesen ohne „Wilhelm II.“, die Staatsmacht der Bolschewiki ohne die Unterstützung des deutschen Reiches schon nach einem Jahr „kaum“ zu halten gewesen, „vermutlich“ wäre keine Sowjetunion in der Folge etabliert worden, und auch noch die „Gulag-Toten“ letztlich von den Deutschen zu verantworten – wie weit will der „Spiegel“ die Absurdität eigentlich noch steigern?

 

Anders ausgedrückt, wird hier zum x-ten Mal verbohrt behauptet, die Oktoberrevolution habe nicht genügend eigene Substanz gehabt, keine selbständige Politik und keine Fähigkeit, die Massen Rußlands zu gewinnen und sich mit ihrer Bewegung zu verbinden. Wer nur ein wenig Geschichtskenntnisse hat, weiß aber, welche ungeheuren umwälzenden Kräfte sich in der russischen Gesellschaft schon Jahrzehnte vor dem Jahre 1914, dem Beginn des I. Weltkrieg, bemerkbar gemacht hatten. Z.B. war schon 1905 im Zarenreich eine große demokratische Revolution ausgebrochen. Daher rührt übrigens u.a. die revolutionäre Regierungsform der Räte (russ. Sowjets), die sich damals spontan aus der Massenbewegung herausbildete. Der I. Weltkrieg hatte dann ab 1914 infolge der fortschreitenden militärischen Katastrophe des Zarenregimes gegenüber Deutschland und Österreich-Ungarn alle sozialen und politischen Widersprüche weiter zugespitzt. Die Massen der Soldaten und Bauern meuterten und verlangten das Ausscheiden aus dem Krieg, sie forderten, der Bauernbevölkerung endlich den Grund und Boden zu übergeben, und es gab unter den – allerdings noch relativ wenig zahlreichen - Industrieproletariern klare sozialistische Bestrebungen. Und nur eine einzige politische Partei, die Bolschewiki mit Lenin als dem maßgeblichsten unter ihren zahlreichen weiteren fähigen Repräsentanten, hatte diese Entwicklung vorhergesehen, hatte die Teilnahme Rußlands an dem imperialistischen Krieg konsequent von Anfang an bekämpft, war nicht mit dem völlig zerrütteten Zarismus und auch nicht mit der grundbesitzerlichen und geldaristokratischen Oberschicht verbunden, die den Krieg weiterzuführen gedachte. Nur sie war auch in der Lage, die wesentlichen sozialen Forderungen der Arbeiter und der riesigen Bauernmassen Rußlands zu verkörpern bzw. sich zueigen zu machen und eine Regierung zu bilden, die sich an ihre Verwirklichung machen konnte.

 

Diese Konstellation war es und nicht etwa eine Intrige der deutschen militärischen Führung, die den Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 zum Durchbruch verhalf und dieser Revolution in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Selbstbehauptung ermöglichte, trotz der heute fast unvorstellbaren Härten, die der I. Weltkrieg und danach 1918-1920 noch zusätzlich die hauptsächlich von Großbritannien, Frankreich, den USA und anderen Mächten organisierten Interventionskriege dem Land auferlegten. Es widerspricht dem tatsächlichen Gang der Ereignisse im Rußland des I. Weltkriegs und der zwanziger Jahre, es widerspricht auch jedem elementaren Verständnis für Politik und Geschichte, diese enorme Umwälzung, die dann auf Jahrzehnte hinaus vom Weltkapitalismus als Hauptgefahr und als Stütze der revolutionären Bewegungen weltweit angesehen und bekämpft wurde, als Ergebnis einer kurzzeitigen taktischen Zusammenarbeit der schon dem Untergang geweihten deutschen Führung mit einer „kleinen Verschwörergruppe“ um Lenin hinzustellen.

 

Daß Lenin und mit ihm eine größere Anzahl russischer politischer Exilanten (auch aus anderen politischen Richtungen) im April 1917 mit Billigung der deutschen Obersten Heeresleitung von der Schweiz aus durch das deutsche Reichsgebiet nach Schweden und schließlich nach Rußland gereist sind, ist eine sattsam bekannte Tatsache, über die Lenin und die Bolschewiki selbst nie ein Geheimnis gemacht haben. Schon kurz nach ihrer Ankunft veröffentlichten die Parteizeitung „Prawda“ sowie die „Iswestija“ des Petersburger Arbeiter-  und Soldatenrates – eine Zeitung, die den Bolschewiki damals fernstand – den von Lenin verfaßten Bericht „Wie wir gereist sind“. Darin wird u.a. festgehalten, daß die britische Regierung die Reise der Emigranten nach Rußland mit allen Mitteln zu verhindern entschlossen war und daß daraufhin in einigen russischen Parteien, ursprünglich übrigens nicht den Bolschewiki, der Plan entwickelt wurde, von der deutschen Regierung eine Genehmigung für die Rückreise im Austausch gegen eine Anzahl von Deutschen und Österreichern, die in Rußland gefangengehalten wurden, zu erwirken. Die Verhandlungen wurden von dem Schweizer Sozialisten Fritz Platten geführt, die Emigranten selbst hatten keine Kontakte mit deutschen Stellen, SPD-Vertretern und dergleichen.

 

Aus dieser Reise sowie angeblichen Geldzahlungen der deutschen Regierung an die Bolschewiki eine story nach Art des „Spiegel“ zu machen, ist schon oft versucht worden. Lenin als deutscher Agent – das ist ein ganz alter Hut. So führte bereits im Juli 1917 die damalige russische Provisorische Regierung unter Kerenski, die insgeheim weiterhin sich mit den westlichen Kriegsmächten über die Fortsetzung des Kriegsbündnisses absprach und die letzten erschöpften Soldatenmassen erneut ins Feuer trieb, mit ebendieser Behauptung Diffamierungskampagne gegen Lenin und die Bolschewiki, stellte entsprechende Haftbefehle aus und versuchte, die bolschewistische Führung zu illegalisieren. Die Sache wurde mit den entsprechenden Gegenstellungnahmen der Bolschewiki für kurze Zeit ein Hauptthema in Rußland, aber die Provisorische Regierung konnte daraus keinen Gewinn ziehen, weil die Massen in Rußland gerade in diesen Monaten die nötige Klarheit über den wirklichen Charakter dieser Regierung gewannen, sodaß es nur bis zum Oktober dauerte, bis sie hinweggefegt war, ohne überhaupt noch nennenswerten Widerstand leisten zu können. Seitdem ist die story mehrfach wieder aufgewärmt worden, konnte aber noch nie jemanden überzeugen, der sich gründlicher mit den Dingen befaßt.

 

Zweifellos gab es in diesem Moment ein Zusammenfallen bestimmter politischer Interessen zwischen den Bolschewiki und der deutschen imperialistischen Führung. Das haben die Bolschewiki nicht bestritten und das hat absolut nichts Kompromittierendes für die Bolschewiki an sich, denn in einer Kriegs- und Revolutionsphase gehören taktische Schwenks und überraschende Absprachen mit Teilen des gegnerischen Lagers zum politischen ABC jeder Kraft, die ums Überleben und die Selbstbehauptung kämpft, sei dies ein reaktionärer Imperialistenstaat wie das deutsche Kaiserreich oder eine revolutionäre Partei. Zweifellos gilt auch, daß der deutsche Imperialismus und die revolutionäre Bewegung der Bolschewiki vom ganzen Wesen und ihren grundlegenden Interessen her Todfeinde waren. Selbst der “Spiegel” kann nicht umhin zuzugeben, daß kaum mehr als ein Jahr nach der Genehmigung von Lenins Reise durch Deutschland erneut ganz andere Saiten zwischen beiden Kontrahenten angeschlagen wurden, bspw. daß die Leninsche Partei die revolutionäre Bewegung in Deutschland, die Streiks, Meutereien, die Novemberrevolution und dann die Ende 1918 gegründete KPD eindeutig unterstützte. Aber im Frühjahr 1917 gab es auch eine klare Gemeinsamkeit bestimmter Interessen: Deutschland mußte versuchen, Rußland aus der gegnerischen Bündnisfront mit der Entente, mit Großbritannien und Frankreich, seit der Kriegserklärung vom 6.4.1917 ganz offiziell auch mit den USA) herauszubrechen, und die Bolschewiki mußten versuchen, die Kriegsteilnahme ihres Landes zu beenden, d.h. alle Kräfte aus der Macht zu verdrängen, die am Krieg festhielten. In Rußland war zwar mit der Februarrevolution 1917 der Zarismus gestürzt und auf revolutionärem Wege verschiedene Formen der Demokratie in Angriff genommen worden, jedoch hielten die verschiedenen Minister der neuen Provisorischen Regierung und die Generalität, hielten die Oberschichten an dem Kriegsbündnis fest, glaubten den Massen noch ungeheurere Leiden zumuten zu können. Lenin, der, obwohl er in der Schweiz exiliert war, die Lage am zutreffendsten einschätzte und den entscheidenden Einfluß in seiner Partei hatte, mußte vor Ort die Dinge selbst in die Hand nehmen können und irgendwie nach Rußland zu kommen versuchen.

 

Daß dies über Territorien der Entente geschehen könnte, verbot sich nach Lage der Dinge von vornherein. Der deutsche Imperialismus aber sah zu Recht in Lenin den entschiedendsten Vertreter des unbedingten Kampfes für die Kriegsbeendigung seitens Rußlands und sah daher seine eigenen momentanen Interessen in der Stärkung der Bolschewiki durch die Übernahme der Führung der Bolschewiki durch Lenin vor Ort in Rußland gefördert. Daher erteilte er die Genehmigung für Lenins Reise. Das ist der einfache politische Kern dieser Episode, und es kennzeichnet diejenigen Mächte wie Großbritannien und die USA, die damals in ihren finstersten Absichten durchkreuzt wurden, Deutschland mit Rußland im Krieg zu halten, um beide noch mehr zu ruinieren und ihre eigene Oberherrschaft in Europa umsomehr durchzusetzen, daß sie nicht aufhören können, mit einer derartigen Verleumdungskampagne des angeblichen deutschen Agententums gegen Lenin und die Bolschewiki ihre eigene Rolle zuzudecken und sich noch postum an denjenigen zu rächen, die sich damals ihrem Spiel entzogen haben. Wenn ein Organ wie der “Spiegel” gleichfalls noch 8 Jahrzehnte später zum x-ten Male wieder dieselbe Schmähpropaganda auflegt, sagt das einiges über seine wirklichen internationalen Abhängigkeiten und Sponsoren. Über politische Käuflichkeit zu reden ist manchmal eine gute Sache. Im Falle des „Spiegel“ hat man da jedenfalls triftige Ansatzpunkte. Was für Medien haben wir eigentlich in diesem Land?

 

Die Frage der Durchreise Lenins wurde in früheren Jahrzehnten längst sattsam ausdiskutiert. Heute versucht der “Spiegel” vor einem inzwischen weitgehend der Dinge unkundigen jüngeren Publikum damit einmal mehr Geschichtsklitterei und antirevolutionäre Stimmungsmache.  Da auch ihm wohl schwant, daß sie nicht verfangen werden, wenn es erneut zur öffentlichen Diskussion kommt, versucht er noch einen weiteren Vorwurf zu lancieren: die angeblichen oder tatsächlichen Geldzahlungen des Deutschen Reiches für die Bolschewiki.

 

Es gibt in der Darstellung des “Spiegel” hier zwei Komplexe: angebliche Geldzuflüsse an die Bolschewiki während der Zeit ihrer Illegalität unter dem Zarismus bis zum Februar/März 1917 und ihrer Oppositionsrolle gegenüber der Provisorische Regierung bis Okt. 1917, und Zahlungen an die revolutionäre Regierung – die die Bolschewiki zunächst zusammen mit der Partei der linken Sozialrevolutionäre gebildet hatten. Solche Zahlungen von Regierung zu Regierung soll es bis fast zum deutschen Zusammenbruch in der zweiten Hälfte 1918 gegeben haben.

 

Zum ersten Komplex wird vom “Spiegel” im weiteren nur die Tätigkeit des politischen Abenteurers Helphand (genannt Parvus) angeführt, der im I. Weltkrieg sich im Interesse der deutschen Kriegführung und ihrer Expansionspläne betätigte und unter diesen Vorzeichen sich und der deutschen Führung vormachte, er selbst könne in Rußland über seine angeblichen Verbindungen einen Umsturz im deutschen Sinne bewerkstelligen. Dies war ebenso realitätsfern wie die andere Vorspiegelung Helphands, der tatsächliche Umsturz in Rußland, der von den Bolschewiki ganz unabhängig von einem Parvus oder wem auch immer angestrebt und realisiert wurde, könne nicht nur zum Ausscheiden Rußlands aus dem feindlichen Kriegsbündnis führen, sondern auch umgebogen werden in Richtung einer politischen Botmäßigkeit Rußlands unter eine deutsche Vorherrschaft - in der Parvus für sich selbst wohl eine führende Rolle in russischen Angelegenheiten vorstellte. Parvus ist lt. “Spiegel” die Drehscheibe für angebliche oder tatsächliche Geldzahlungen der deutschen Regierung an die Bolschewiki gewesen. Diese Dinge sind vor über 40 Jahren bereits ausführlich behandelt worden in dem Werk von Scharlau und Zeman von 1964 („Freibeuter der Revolution – Parvus-Helphand – eine politische Biographie“) das der “Spiegel” zwar erwähnt, aber ohne zuzugeben, daß Scharlau/Zeman weit entfernt von Deutungen a la “Spiegel” sind, die Bolschewiki hätten sich von Deutschland abhängig machen lassen, die Oktoberrevolution sei irgendwie in Abhängigkeit vom Deutschen Reich erfolgt oder habe sich in eine derartige Richtung entwickelt. Lenin betrachtete Parvus in dieser Epoche zu Recht als deutschen Agenten und verweigerte sich jedem Kontakt. Zwar sollte man es nicht für völlig ausgeschlossen halten, daß über Handelsbeziehungen, die Parvus während des Krieges zwischen Dänemark und Rußland unterhielt, indirekt Gelder auch an illegale bolschewistische Parteiorganisationen in Rußland geflossen sind. Die Frage ist nur, ob damit die Politik der Bolschewiki von Parvus oder der deutschen Regierung beeinflußt worden ist oder nicht. Das behauptet nun selbst der “Spiegel” nicht, obwohl das das einzig Interessante wäre, wenn man doch bemüht ist, die Abhängigkeit der Bolschewiki von der deutschen Regierung darzutun. Es ist nichts Ehrenrühriges für eine revolutionäre Partei, die unter einem Regime wie dem Zarismus sich in tiefer Illegalität behaupten muß und noch dazu aufgrund des Krieges nur äußerst mühevoll Auslandsverbindungen unterhalten kann – sie wurde ja nicht nur von der russischen Regierung und ihren Bündnispartner Großbritannien und Frankreich, sondern auch von den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn verfemt, von den letzteren jedenfalls bis ins Jahr 1917 -, wenn sie auch graue Finanzquellen nutzt, solange das nicht zu politischen Abhängigkeiten führt. Ohne deren Nachweis bleibt die “Spiegel”-Darlegung nur Stänkerei.

 

Die Frage der Zahlungen ist im Prinzip nicht anders zu untersuchen als die der Reise Lenins im April 1917 durch das deutsche Reichsgebiet. Wenn politische Interessen massiv, wenn auch nur partiell und für kurze Zeit zusammenfallen, wie es im Falle der Friedenspolitik der Bolschewiki und dem Interesse Deutschlands am Ausscheiden Rußlands aus dem feindlichen Kriegsbündnis der Fall war, dann sind solche Absprachen selbstverständlich möglich, dann ist es auch nicht verwunderlich oder moralisch bedenklich, wenn es auch finanzielle Leistungen gibt. Während fast des ganzen ersten Jahres der revolutionären Regierung der Bolschewiki (zunächst in Koalition mit der Partei der linken Sozialrevolutionäre) bestand die Gefahr ihres Sturzes durch die von der Macht verdrängten Parteien, die ihrerseits Rußland zurück in den Krieg und das Bündnis mit Großbritannien, USA und Frankreich gebracht hätten. Folglich hatte die deutsche Regierung ein massives Interesse daran, daß die revolutionäre Regierung nicht gestürzt wurde, und warum sollte dieses Interesse nicht auch durch Geld gefördert werden? Wenn der “Spiegel” von einigen Millionen bis zu einigen Dutzend Millionen spricht, dann sind das angesichts der Größe Rußlands, der Kriegszerrüttung, unter der das Land litt und angesichts der militärischen Interventionen Großbritanniens, der USA und anderer Länder, die im Laufe des Jahres 1918 in Rußland einfielen, um die Gegenrevolution zu erreichen, im übrigen nicht mehr als gelegentliche Nothilfen, entscheidend konnten sie nicht sein. Es waren nicht diese Zahlungen – wenn sie überhaupt so bestimmt waren, den angeblichen Umfang hatten und ihr Ziel erreichten - mit denen über den Bestand der revolutionären Regierung entschieden wurde, wie der “Spiegel” das hinstellt (der sowieso die primitive Ideologie kultiviert, daß alles, auch die größten politischen Fragen, mit Geld zu regeln sei). Entscheidend waren nach wie die politischen Kernpunkte: die Leninsche Führung garantierte dem Volk, daß Rußland nicht in den Krieg zurückgeworfen wurde und daß nicht von den inneren Reaktionären und den ausländischen Interventen das Regime der Grundbesitzer und Kriegskapitalisten restauriert würde. Deswegen hatte sie gerade auch in diesem schwierigen ersten Jahr die Unterstützung der Massen, konnte sich aus eigener Kraft behaupten, konnte dann auch die noch härteren folgenden Jahre der massiven Interventionskriege aus eigener Kraft bestehen (in denen von einer deutschen Unterstützung schon deswegen nicht mehr die Rede sein konnte, weil Deutschland zusammengebrochen war und nun unter dem Diktat der Entente und der USA stand).

 

Der „Spiegel“ zitiert als Motto des 2. Teils (17.12.2007) seiner diffusen Darstellung eine Äußerung des deutschen Botschafters in Rußland, Mirbach, vom Sommer 1918: „Nie war das käufliche Rußland käuflicher als jetzt.“ Wenn der „Spiegel“ dies als den ersehnten finalen Beweis präsentieren will, daß die Bolschewiki doch käuflich gewesen seien, hat er noch einen Schuß in den Ofen getan. Genau gelesen bezieht sich dieser Satz nämlich auf Mirbachs Beobachtung, daß die Westalliierten, wie der „Spiegel“ selbst schreibt, in jener Zeit Millionen an diverse Dunkelmänner, Gegner der Bolschewiki, verteilten, um Rußland wieder in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen. Wenn Mirbach auch eigene Bestechungsgelder gemeint haben sollte, dann bleibt unklar, an wen er sie verwandt hat, vielleicht an eben dieselben Dunkelmänner, um sie gegenzubestechen? Ob die Bolschewiki und die von ihnen geführte Regierung Gegenstand von Bestechungsversuchen gewesen sein könnten, bleibt hier völlig offen, noch mehr, ob dabei Erfolge erzielt worden sind. Die Politik der Bolschewiki blieb auch in dieser Zeit völlig eigenständig, und die Weigerung, sich wieder in den Krieg hereinziehen zu lassen, beruhte auf den elementarsten eigenen Interessen. Es ist völlig unerheblich, ob und wieviel Geld die deutsche Regierung unter diesem Gesichtspunkt an Rußland überwiesen hat. Um Bestechung handelt es sich dabei jedenfalls nicht.

 

Sehr interessant folgende summary, die  der “Spiegel” seinen bemühten Schilderungen folgen läßt:

 

„Während der Reise hatte Lenin aus der Parteizeitung ‚Prawda’ erfahren, dass die Petrograder Bolschewiki den Krieg fortsetzen und die Provisorische Regierung stützen wollten, weil sie Russland noch nicht reif für den Sozialismus hielten. Noch in der gleichen Nacht [der Ankunft in Petersburg, wgr.] verkündete Lenin einen neuen Kurs: Die Verteidigung des Vaterlands sei ‚kleinbürgerlich’ und ein ‚Betrug der Bourgeoisie an den Massen’. Nein zum Krieg, nein zur Provisorischen  Regierung, Fortsetzung der Revolution.“

 

Was hier fundamental nicht stimmt, ist die Behauptung, Lenin habe in jener Aprilnacht des Jahres 1917 „einen neuen Kurs“ verkündet, der wenig später in die Oktoberrevolution gemündet sei – die ohne diesen „neuen Kurs“ mithin nicht entstanden wäre. Wenn Lenin tatsächlich erst infolge der von der deutschen Regierung genehmigten Übersiedlung nach Rußland einen „neuen Kurs“ auf die revolutionäre Machtergreifung hätte verkünden und durchsetzen können, dann käme der deutschen Regierung eher so etwas wie eine entscheidende ursächliche Rolle für Oktoberrevolution zu. Aber in Wahrheit war dieser Kurs mitnichten neu und war von Anfang an zum äußersten Mißfallen auch der deutschen Kriegsmatadore für alle imperialistischen Kriegsmächte, auch für Deutschland, propagiert worden. Es war nicht nur der Kurs Lenins seit Kriegsbeginn, sondern auch der seiner Partei. In den „Briefen aus der Ferne“ entwickelte Lenin bereits im März 1917, noch im Schweizer Exil, die konkrete Einschätzung der Provisorischen Regierung, die Notwendigkeit ihres Sturzes, um zum Frieden zu kommen, und der Machtergreifung durch die Arbeiter und die armen Bauern. (s. insbesondere den 4. Brief)

 

Der Kurs hieß einfach und konsequent: den Krieg bekämpfen durch die Revolution im eigenen Land. Die deutsche Regierung verfolgte Revolutionäre wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die zu ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen waren und darin sich mit den Bolschewiki zusammenschlossen, unnachsichtig. Schon zu Anfang des Krieges 1914 und von da an unablässig hatte Lenin die Politik vertreten, daß Vaterlandsverteidigung in dem konkreten Krieg von 1914 in keinem der großen beteiligten Länder Deutschland, Rußland, Frankreich und  Großbritannien etc. gegeben sei, daß es vielmehr von ihnen allen ein imperialistischer Raubkrieg und eine unerhörte Disziplinierung und Dezimierung der eigenen Volksmassen sei. Daher könne der Krieg nur durch den Aufstand gegen die betreffenden Regierungen, gegen die Staatsapparate und die herrschenden Klassen dieser Länder beendet werden. Wenn er das nach seiner Ankunft in Rußland in den bekannten „Aprilthesen“ nachdrücklich für das eigene Land nochmals konkretisierte, war das der alte Kurs, der offizielle Kurs auch seiner ganzen Partei.

Tatsache ist allerdings, daß zu diesem Zeitpunkt die Führung vor Ort, genauer gesagt die leitenden Redakteure der „Prawda“, Stalin und Molotow, Neigung gezeigt hatten, vom Parteikurs abzugehen und an einen Kompromiß mit der Provisorischen  Regierung, die im Interesse der Ententemächte und der USA, im Interesse der überkommenen herrschenden Klassen Rußlands den Krieg fortsetzte, zu denken. Diese Kräfte wurden durch Lenin sofort nachdrücklich auf den Parteikurs, den unmittelbaren Kampf für den Frieden und den Sturz der Provisorischen Regierung, zurückgebracht. Man mag sagen, daß dieser Eingriff durch Lenin von der deutschen Regierung partiell mit ermöglicht wurde, indem sie Lenin nach Rußland zurückreisen ließ. Der Parteikurs der Bolschewiki aber wurde nicht durch sie geschaffen, sondern sie mußte die russische soziale Revolution zeitweilig in Kauf nehmen um des momentanen Vorteils willen, daß im Zweifrontenkrieg die östliche Front weitgehend wegfiel. Die ein Jahr später folgende deutsche Novemberrevolution von 1918 brachte sie dann in die unmittelbare Gefahr, daß die Arbeiter- und Soldatenmassen auch in Deutschland Kurs auf Sturz der besitzenden, für den Krieg verantwortlichen Klassen nehmen würden.

 

„War in Russland erst die Diktatur des Proletariats errichtet, so glaubte Lenin, würde die Weltrevolution folgen.“ („Spiegel“ 10.12.2007)

 

Unsinn. Die damals unter Revolutionären wie Lenin verbreitete Annahme war, daß der Krieg auch die beteiligten Staaten gerade im Westen revolutionieren würde, u.a Deutschland als ein Zentrum revolutionärer Entwicklungen in Europa, und von daher ein revolutionärer Sturm in vielen weiteren Ländern ausgelöst würde. Ihr eigenes Land sahen sie für eine solche Entwicklung jedoch nicht als ausschlaggebend an, sondern als den Vorläufer, den Signalgeber, den Brückenkopf.

 

Daß Lenin kurz nach dem Februarumsturz nach Rußland zurückkehren konnte, trug ohne Zweifel zur Festigung und raschen Durchsetzung der revolutionären Politik der Bolschewiki bei, die, abgesehen von dem Teilmoment der Entschlossenheit, die Kriegsteilnahme Rußlands  zu beenden, der deutschen Führung ein absoluter Greuel war - wenn sie in ihrer im Grund ausweglosen Lage sich überhaupt noch die Tragweite der russischen Revolution klarmachen konnte. Aber es blieb ihr nichts übrig als dieser Schritt, und auch dieser rettete sie schließlich nicht. Zwar hätte sich auch ohne die sofortige Rückkehr Lenins die revolutionäre Entwicklung sehr wahrscheinlich durchgesetzt, möglicherweise aber wären die Bolschewiki noch nicht im Herbst 1917 an die Macht gekommen, hätte die Entwicklung Umwege nehmen müssen, wäre mit größeren Opfern verbunden gewesen, denn kein anderer Parteiführer war so wie Lenin fähig, die richtigen Momente zum Handeln zu erkennen und durchzusetzen, sich in der Agrarfrage flexibel zu zeigen und das für die Mehrheitsbildung entscheidende Regierungsbündnis mit den linken Sozialrevolutionären zustande zu bringen, usf.. Andererseits muß unterstrichen werden, und das habe ich oben versucht, daß in der Friedensfrage und der Nationalitätenproblematik (d.h. der Rückgabe der Selbstständigkeit an Finnland, Polen und andere vom Zarismus okkupierte Länder) die Bolschewiki die Politik im Prinzip schon länger zuvor definiert hatten, die sie dann mit der Oktoberrevolution verwirklichten. In der Agrarfrage zeigten sie sich schließlich fähig, vor allem aufgrund des vor Ort entwickelten taktischen Konzepts Lenins, im Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären die entscheidende Wendung durchzusetzen, die Übergabe des gesamten landwirtschaftlichen Bodens an die Bauern. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß das im Untergang befindliche deutsche imperialistische Kriegsregime im Versuch, der Umklammerung durch den Zweifrontenkrieg zu entkommen, an der in gewissem Sinne radikalsten sozialen Umwälzung der neueren Geschichte ganz gegen seine Natur mitgewirkt hat. [1]

 

 

 


[1] Noch eine Bemerkung zur Methodik des „Spiegel“.

In seinen Eingangsthesen fallen beim genauen Lesen drei kleine Wörtchen auf, sie heißen „so“, „kaum“ und „vielleicht“ und verraten einen inneren Widerspruch der Autoren. So knallig sie hier auch auftreten mit dem Anspruch, das Geschichtsbild des 20.Jahrhunderts  fundamental zu verändern, ganz festlegen lassen wollen sie sich doch wiederum nicht, und deswegen heißt es nicht etwa, den Oktoberumsturz 1917 hätte es ohne das deutsche Reich nie gegeben, sondern nur: „so nicht gegeben“ - sie schließen nicht aus, daß es ihn auch ohne das Deutsche Reich gegeben hätte. Und wenn es ihn „so nicht“ gegeben hätte, wäre von ihnen darzulegen, wie sehr anders er verlaufen wäre, oder ob der vermutete andere Verlauf so essentiell anders gewesen wäre als der historische tatsächliche. Und wer „kaum“ antwortet auf die eigene Frage, ob sich die Bolschewiki im ersten Jahr ohne deutsche Unterstützung hätte halten können, kann offenbar die Möglichkeit nicht ganz verneinen, daß sie es auch ohne das deutsche Reich geschafft hätten. Entsprechend billig ist es zu „vermuten“ daß im weiteren dann die Bildung und Etablierung der Sowjetunion geschichtlich vermieden worden wäre, die immerhin als revolutionärer Staat, wenn auch mit bestimmten Schattenseiten, mehrere Jahrzehnte und als Staat überhaupt rund 70 Jahre bestanden hat.

 

Entsprechend wacklig und vage fällt die Präsentation der Fakten aus, die den „Spiegel“-Leser zu solchen spekulativen Neubewertungen veranlassen sollen. Das Buch von Elisabeth Heresch über Parvus (erschienen in 2000), das lt. „Spiegel“ so viele neue archivalische Belege über seine Thesen enthalten soll, zeichnet sich dadurch aus, daß es für die angeblichen Archivstudien der Verfasserin durch die Bank keine nachprüfbaren Belege nennt, es ist also wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen.

 

 

 

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Klaus Sender:    Leninismus und Zivilisation
- Einführung zur Kritik


Klaus Sender:

W.I. Lenins Stellung zu Alexander I. Herzen

 

Für die geschichtliche Diskussion zu wenige Kenntnisse?
IS 2007-23 - 6.3.07

Dokumente zur Ausgangslage 1918


Revoltierende Matrosen bei einer Demonstration in Wilhelmshaven 6.Nov 1918
Postkarte


Über einige wesentliche Aspekte der Politik der Sowjetunion
IS 2005-24 vom 21.3./12.4.05