Internet Statement 2005-24

 

 

 

 

Über einige wesentliche Aspekte der Politik der Sowjetunion

 

Hartmut Dicke       

 

Die Diskussion um das Bombardement von Dresden 1945 führte zu wesentlichen Fragen dieses Landes und seiner Geschichte. Die Agitation der „Antideutschen“ und der damit verbundenen „Antifa“-Gruppen ging so weit, daß sie die Bombardements gegen die Zivilbevölkerung, auch wenn sie gezielt gegen diese gerichtet waren, rechtfertigten und sogar zum notwendigen Prinzip gegenüber Deutschen erhoben. Eine Reihe ihrer Argumente konnten leicht entkräftet werden, da sie offensichtlich den imperialistischen Charakter der Westmächte völlig verleugneten und massiv den völligen Kniefall vor diesen Mächten propagierten und damit verbunden zugleich jeder revolutionären Zielsetzung der Arbeiterbewegung in Deutschland einen Riegel vorzusetzen gedachten. Alle Maßnahmen der Alliierten waren in ihren Augen automatisch gerechtfertigt, selbst wenn sie militärisch kaum Sinn machten, selbst wenn es sich um Zivilistenschlächterei handelte. Sowohl wir als auch eine Reihe anderer Kreise und Zirkel  haben dies attackiert und verurteilt und in seiner Absurdität und Extremität aufgezeigt.

 

 

Die Frage der Sowjetunion

 

Ein Argument schienen diese Leute aber gewissermaßen wie eine Sicherungskarte hervorzuziehen und damit zumindest gewisse Leute in Verlegenheit zu bringen. Wenn alles nichts mehr half, dann zogen sie die Information aus den Archiven, daß die Sowjetunion diese Bombardierung Dresdens wie auch weiterer Städte mit den entsprechenden Zivilopfern ohne militärischen Zweck guthieß, darunter auch das Bombardement Dresdens, bezeugt durch gewisse Dokumente der sowjetischen Führung auf den Konferenzen in Teheran und auf der Krim und bei ihrer Korrespondenz mit den alliierten Mächten. Umgekehrt legten zum Beispiel die Kritiker des Bombardements ihrerseits ein Dokument vor, aus dem hervorgeht, daß nach dem Kriege, als die Sowjetunion auch durch keinerlei Bündnisverpflichtungen mehr gebunden war, diese verantwortlichen Militärs, wie z.B. der sowjetische General Konjew, klar erklärten, daß das Bombardement von Dresden keinen militärischen Wert für sie hatte. Und wenn es eine Kompetenz auf militärischem Gebiet gibt, dann ist es dieser General, der in diesem Bereich zwischen Berlin und dem tschechischen Gebiet militärisch die Erste Ukrainische Front führte.

 

Trotzdem aber bleiben die Dokumente und die Äußerungen Stalins  z.B. bei den Verhandlungen in Teheran und Jalta stehen, und es bedarf hier einiger prinzipieller Klärungen, die die Bewertung dieser Dokumente berühren. Es muß  die Frage gestellt werden: ist es denn so, daß eine solche Bezeugung von sowjetischer Regierungsseite gewissermaßen  automatisch eine solche militärische Politik rechtfertigt? Und das darf man grundsätzlich bestreiten. Es ist nämlich keineswegs so, daß die Politik der Sowjetunion, die wir in ihrer gesamten geschichtlichen Bewegung durchaus schätzen, hier unkritisierbar steht, oder daß es nicht etwa solche gravierenden Mängel an dieser Politik gegeben hätte, die auch krasse Fehlurteile und sogar politische Vergehen möglich machten. Dem ist keineswegs so. Es ist deshalb notwendig, daß - vielleicht auch klarer, als es bisher der Fall gewesen ist - zu einer Reihe von geschichtlichen Abläufen Stellung bezogen wird und eine Reihe von historischen Fakten in Erinnerung gerufen wird, und zwar am besten an sowjetischen Dokumenten selbst.

 

Unsere Organisation weiß den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion und seine schwierige Pionierrolle zu schätzen. Wir haben aber schon seit zwanzig Jahren und mehr auch immer wieder Kritik an bestimmten politischen Zügen der Sowjetunion geübt, und sehen uns auch durch das, was im weiteren  an Dokumenten zutage getreten ist oder von uns selbst in vorhandenen Dokumenten entdeckt wurde auf diesem Gebiet, unbedingt bestätigt.

Man wird immer wieder bei der Politik J.W. Stalins sowie des zeitweiligen Außenministers und Premierministers W. M. Molotow auf die Frage stoßen, wie weit die Kompromisse gehen dürfen. [1]

 

Wir halten es für unabdingbar, daß eine Reihe negativer Züge, die der sowjetischen Revolution und der weiteren Entwicklung anhaften, ungeschminkt und rücksichtslos aufgedeckt werden, damit der geschichtlichen Wahrheit zunutzen der internationalen Arbeiterbewegung und der proletarischen Revolution, dem allgemeinen demokratischen Interesse auf der Welt, genüge getan wird. Ohne daß diese Fehler behandelt werden, ohne daß auch eine Reihe von Abscheulichkeiten klar ans Tageslicht gezogen werden, kann es letztlich keinen Voranschritt in der proletarischen Bewegung geben.

Die kommunistische Bewegung muß sich von Irrtümern in der Geschichte, und das betrifft nicht nur die Sowjetunion, befreien. Auch die deutsche Sozialdemokratie bspw. hat eine Menge Ballast enthalten, man muß hier nur an die Frage Lassalle erinnern, die bis vor dem I. Weltkrieg auch von der sog. Linken mit Stillschweigen übergangen wurde, obwohl durch den Lassalleanismus und seine späteren Fortsetzer in dieser Frage zugleich eine üble Entstellung, Bevormundung und Mißachtung von Marx und Engels vorliegt.

Schließlich gibt es keine Heiligen im Sozialismus, alles unterliegt der Kritik, das betrifft auch die sog. marxistisch-leninistischen Klassiker. Wir haben uns der Realität  zu stellen, wir wären arm dran, wenn wir bald zweihundert Jahre nach dem Zeitalter von Marx und Engels immer noch auf der gleichen Stufe stehen würden und keine Weiterentwicklung demgegenüber kennen würden. Man muß die Erkenntnisse achten, die historischen Erfahrungen, die in dem Marxismus und Leninismus, in den Lehren weiterer grundlegender Theoretiker beinhaltet sind, nicht vergessen, nicht in den Wind schlagen, man muß zugleich die Theorie immer wieder an der Wirklichkeit messen.

 

 

Beginnen mit einem besonders eklatanten Punkt

 

Die Politik der Sowjetunion weist in der Zeit 1939-41, die dem faschistischen Überfall vorweg ging, eine Reihe von extremen Merkwürdigkeiten auf, die nicht vom Tisch gewischt werden dürfen. Die Politik der Sowjetunion ging so weit, mit den Nazis ein Land zu teilen, es an einer Demarkationslinie entlang zu besetzen, einen Gebietstausch mit Nazideutschland zu betreiben und in der Öffentlichkeit eine Propaganda zu betreiben, die der nazifaschistischen verbrecherischen Tätigkeit ungemeinen Auftrieb geben mußte. Die späteren Vorgänge von 1941, der Überfall auf die Sowjetunion, das Desaster der Sowjetunion in den ersten Jahren des Krieges, können nicht von dieser Tätigkeit losgelöst werden.

 

Um sich das vor Augen zu führen, muß man nur die offiziellen sowjetischen Verlautbarungen  von damals zitieren. Am 31.August setzten die deutschen Truppen zum Angriff auf Polen an, in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 fielen die Truppen unter dem Vorwand eines angeblichen Vorfalls bei dem Sender Gleiwitz, der von deutschen Geheimdiensten selbst produziert worden war, in Polen ein, mit dem Zwecke, dieses Land zum größeren Teil zu besetzten und sich einzuverleiben. Es war ein glatter Eroberungs- und Aggressionskrieg, der auch durch die vorherigen polnischen Vergehen, durch den durchaus vorhandenen polnischen Faschismus sich nicht rechtfertigte. Es war ein Krieg der Eroberung, der mit der Sowjetunion, und das ist in unserem Zusammenhang das Entscheidende, abgesprochen war.

 

Direkt vor diesem Angriff am 31.August 1939, als die deutschen Truppen ihren Angriff unmittelbar in die Wege leiteten, um sofort voll in das Gebiet Polens hineinzustoßen, tagte der Oberste Sowjet in Moskau, auf dem der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare und Außenminister Molotow eine vorbereitete Rede hielt, um die Zustimmung des Obersten Sowjet für den „Nichtangriffsvertrag“ einzuholen.

 

„Die Hauptbedeutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes besteht darin, daß zwei der größten Staaten Europas übereingekommen sind, der Feindschaft zwischen ihnen ein Ende zu setzen, die Kriegsgefahr zu beseitigen und miteinander in Frieden zu leben. Dadurch wird das Feld möglicher kriegerischer Zusammenstöße in Europa eingeengt. Selbst wenn es nicht gelingt, kriegerische Zusammenstöße in Europa zu vermeiden, wird das Ausmaß dieser Kriegshandlungen nunmehr begrenzt sein.“ [2]

 

Welch eine Anmaßung von Seiten Molotows! Da bereitet die faschistische Wehrmacht den Einmarsch zur Eroberung eines Landes vor und Molotow bescheinigt dem Hitlerismus den Abschluß eines „Friedenspaktes“. Am Tage des Angriffs wird diese Rede in der Prawda veröffentlicht, in der  ein Vertrag unterstellt wird, der wie es heißt, ein „historischer Wendepunkt“ in der Geschichte Europas und sogar nicht nur Europas sei. Die Behauptung, daß durch diesen Vertrag die kriegerischen Zusammenstöße eingeengt werden, wenn gerade soeben der 2. Weltkrieg in Europa in Gang gesetzt wird, ist eine unglaubliche Infamie, ja ist derartig abwegiges Gerede, daß sich die Frage nach dem Hintergrund derartigen Auftretens stellt. 

 

Diese Äußerungen, die sogar noch gesteigert wurden in dem Sinne, daß Deutschland den Frieden wünsche und England der Kriegstreiber sei, stellen die faktische Reinwaschung der faschistischen Aggression dar. Kein Wort der Anklage erfolgt hier und im weiteren gegenüber dem faschistischen Überfall!

 

Am 23. August, eine Woche zuvor, war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt geschlossen worden. Dieser Pakt hat eindeutig eine zusätzliche Abmachung beinhaltet, daß sich die Truppen beider Staaten an einer Demarkationslinie dieses Land, Polen, teilen. Die Sowjetunion hat lange versucht, diese Absprache,  dieses Geheime Zusatzprotokoll zu bestreiten. Die Originale sind verschwunden, aber es liegen genügend Kopien und Zusatzdokumente vor, die die Existenz dieses Zusatzprotokolls beweisen. Selbst aber wenn man von der Nichtexistenz eines Papieres ausgehen würde, der Fakt der Absprache durch das Vorgehen selbst liegt vollkommen klar auf dem Tisch. Die Truppen beider Staaten begrüßten sich herzlich an der Demarkationslinie, wußten genau, in welchem Bereich diese Demarkationslinie in diesem Bereich ungefähr  festzulegen ist.

 

Am 17. September 1939 erklärte die Sowjetunion den polnischen Staat für nicht mehr existent, und rückte mit ihren Truppen kurzerhand in die östlichen Gebiete Polen ein, obwohl Warschau noch erbitterten Widerstand leistete und noch zahlreiche weitere Truppen mindestens zehn weitere Tage den deutschen Okkupanten Widerstand leisteten. Sie wurden in abgestimmten militärischen Operationen von der sowjetischen Seite von Osten und von der deutschen Seite von Westen niedergerungen.

 

Die Anklagen, die  unter der Führung der KPdSU in jener Zeit geäußert wurden, gingen so weit, daß sie die Polen zum Aggressor erklärten, umgekehrt die Deutschen zur friedenserhaltenden Kraft. Dieser unglaubliche Vorgang kann nicht weggewischt werden, er fällt in die Verantwortung der Sowjetunion und ist durch nichts zu rechtfertigen.

 

Zitieren wir einmal, was Sofija Sigismundowna Dsershinskaja, die Frau von Felix Dzierzinski (1877 -1925), der polnischer Abkunft war und der von Lenin seinerzeit als einer der russifizierten Nichtrussen mit besonders deutlicher russisch-chauvinistischer Neigung kritisiert worden war, in ihrer Stellungnahme in der Zeitschrift der Kommunistischen Internationale zur Erläuterung der sowjetischen Politik schreibt:

 

„Als der niederträchtige Plan der englischen und französischen Imperialisten – den Krieg zu entfesseln, um die Sowjetunion in einen bewaffneten Konflikt mit Deutschland hineinzustoßen - aufgedeckt wurde und zusammenbrach, als der Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland geschlossen wurde, jagten die polnischen Kapitalisten und Großgrundbesitzer, von England und Frankreich inspiriert, die Völker Polens in den Krieg.....

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Eroberung Ostpreußens und der Slowakei, Unterwerfung der Tschechen und Slowaken unter die polnische Vorherrschaft, Schaffung eines polnischen Staates als Zentrum eins sogenannten franko-slawischen Blockes gegen die Sowjetunion – das waren die wirklichen, größenwahnsinnigen Eroberungspläne, die dazu führten, daß das polnische Volk in einen Krieg mit all seinen Schrecken gestürzt wurde.“

(aus: S. Dsershinskaja, Der Bankrott des imperialistischen Polen, in: „Die Kommunistische Internationale“, Jg. 1939, Oktoberheft, S. 1076)

 

Wie man sieht, ist nach Ansicht der sowjetischen Vertreterin die polnische Führung für den Ausbruch des Krieges mit Hitler verantwortlich.

 

Wenn in dem gleichen Artikel, durchaus zu Recht, das faule Wesen des polnischen Staates angegriffen wird, dann kann das trotzdem nichts an diesem Fakt des hitleristischen Überfalls  ändern. Es bedarf wohl keines Kommentars, daß dieses Auftreten der Sowjetunion selbst alle antifaschistischen Kräfte in ganz Europa schwächen mußte. Eine Reihe von Parteien in Europa kamen durch diese Politik völlig durcheinander und waren durch diese Politik gelähmt im Kampf gegen den Faschismus. Einige operierten unabhängig davon und begannen den Kampf gegen den Faschismus trotzdem. Zu diesen gehörte übrigens die Kommunistische Partei Jugoslawiens.

Der polnische Staat war wirklich ein Staat, der auf dem Versailler Abkommen und den anderen „Pariser Vorortverträgen“, d.h. auf dem Unrecht gegenüber zahllosen Völkern, aufgebaut war und der obendrein stolz war, eine solche Prostituiertenrolle im Imperialismus einzunehmen. Aber was sind schon die polnische Reaktion und ihre faschistischen Provokationen im Vergleich zur Hitlerreaktion. Die polnische Ostgrenze war durch den Frieden von Riga 1920 von der Sowjetunion garantiert. Indem die Sowjetunion, ohne sich um den Vertrag zu scheren, gemeinsam mit Nazi-Deutschland Polen aufteilte, beging sie selbst einen erheblichen Vertragsbuch.

 

Es wird von der Sowjetunion, und zwar zu Recht, angeführt, daß sie vor der Aufgabe stand, die Intrigen und Versuche, Deutschland und die Sowjetunion in einen Krieg zu bringen, von Seiten Englands, aber auch der USA, zu verhindern und zu durchkreuzen. Man habe stattdessen Hitler in Richtung Westen gelenkt. Gegen eine solche Argumentation ist nichts einzuwenden, ein solches Verhalten ist legitim. Die Frage ist aber, wie weit darf denn der Kompromiß gehen? Zu welchen Bezeugungen dürfen denn sowjetische Vertreter sich hinreißen lassen? Und bei den hier zitierten Äußerungen handelt es sich nicht um einmalige Äußerungen, um den Fehlgriff eines Politikers zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern um eine politische Vorgehensweise, die mindestens eineinhalb Jahre die Sowjetunion beherrschte.

Die Tatsachen über den reaktionären und provokativen Charakter des polnischen Staates und die Existenz von polnischen Kräften mit Eroberungsgelüsten  auch gegenüber Deutschland können nicht wegwischen, daß hier selbst ein imperialistischer Krieg, ein unmittelbar annexionistischer Krieg reaktionärsten Charakters begünstigt worden ist.

 

Die Sowjetunion ging so weit, daß sie am 28. Sept. 1939 ein Zusatzabkommen mit Deutschland traf, das eine gewisse gebietsmäßige Umgruppierung durchführte, die Einflußsphären wurden etwas geändert, Litauen, zu diesem Zeitpunkt ein souveräner Staat, fiel zum größten Teil zur Einflußsphäre der Sowjetunion, während ein vergrößertes polnisches Gebiet zur Einflußsphäre, zur  „Interessensphäre“ der Deutschen erklärt wurde. Die Demarkationslinie wurde in Mittelpolen von der Weichsel an den Bug ostwärts verlegt.

Ein imperialistischer Schacher, in seiner Klarheit gar nicht zu überbieten. Und wir finden dies kommentiert von dem sowjetischen Regierungschef W.M. Molotow in einem authentischen Bericht vom 31.10.1939, der in Zeitschrift „Die Kommunistische Internationale“ vom November 1939 wiedergegeben wurde. [3] Hierin greift Molotow alle diejenigen an, die sich mit dieser neuen „Argumentation“ kritisch auseinandersetzen. Was in dieser Rede von Molotow gesagt wird, würde vollständig für eine Anklage der faschistischen Komplizenschaft durch diesen Regierungsvertreter der Sowjetunion reichen, es ist eine Rede, die in ihrer Anpassung, Unterwürfigkeit und Eindeutigkeit leider nicht in Frage zu stellen ist.

 

Zur Propaganda gegen den Faschismus meinte Molotow:

 

„Im Zusammenhang mit diesen wichtigen Änderungen [des Sept. 1939] der internationalen Situation sind einige alte Formeln, von denen wir unlängst noch Gebrauch gemacht haben – und an die viele sich so sehr gewöhnt haben – offensichtlich veraltet und heute unanwendbar. Hierüber muß man sich Rechenschaft ablegen, um grobe Fehler in der Einschätzung der neuen politischen Lage zu vermeiden, die sich in Europa herausgebildet hat.“ (S. 1127)

 

Und jetzt geht es weiter in pcto. „Aggression“:

 

  „Es ist beispielsweise bekannt,  daß in den letzten paar Monaten Begriffe wie ‚Aggression’, ‚Aggressor’ einen neuen konkreten Inhalt bekommen, einen neuen Sinn erlangt haben. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß wir von diesen Begriffen gegenwärtig nicht in dem Sinne Gebrauch machen können, wie, sagen wir, vor drei oder vier Monaten.“ (S. 1127)

 

Das besagt, daß das bisher als Aggressor angegriffene Deutschland nun, im Zusammenhang  mit dem Überfall auf Polen, nicht mehr Aggressor genannt werden darf.

 

 „Wenn man von den europäischen Großmächten spricht, so befindet sich Deutschland heute in der Lage eines Staates, der die schnellste Beendigung des Krieges und den Frieden anstrebt, England und Frankreich aber, die gestern noch gegen die Aggression stritten, sind für die Fortsetzung des Krieges und gegen den Abschluß eines Friedens. Wie Sie sehen, werden die Rollen getauscht.“ (ebda.)

 

Wie man sieht, bestätigt Molotow dem nazifaschistischen Staat den Wunsch nach Frieden. Was für einen Frieden strebte die Hitlerregierung damals an? Sie strebte an, daß sie ungestraft Polen besetzen konnte, im Zusammenwirken mit der Sowjetunion, und diese Besetzung durch England und Frankreich geschluckt wird, daß diese keinen Krieg darum weiterführen, sodaß die Naziregierung die Situation erst einmal so stabilisieren konnte, wie es ihr sinnvoll erscheinen mußte. Diese Angebote wurde von der Hitlerregierung auch gemacht, Warum wurden sie gemacht? Vielleicht, um dauerhaft Frieden zu stiften? Natürlich nicht, sondern damit die Hitlerregierung diese Pause benutzt, um erneut aufzurüsten und die nächste Aggression, den nächsten Kampf mit anderen Imperialisten zu beginnen. Kann man eine solche Politik als ein Streben nach Frieden bezeichnen? Das ist doch wohl makaber, das ist Reinwaschen des Nazifaschismus, Leute, die so reden, sind auch mitverantwortlich, wenn sie sich selbst an die Nazifaschisten ausliefern, werden zu Mithelfern.

 

Wenn die Sowjetunion neutral gewesen wäre, hätte sie derartige Ausführungen überhaupt nie gemacht. Sie hätte gesagt: die Imperialisten kämpfen gegeneinander, was geht uns das an? Aber so redet sie eben nicht, sondern sie ermuntert Nazideutschland.

 

 Es geht also nicht darum, daß die Sowjetunion nicht legitimiert gewesen wäre, den Versuch zu unternehmen, die Hitlerfaschisten nach Westen abzubiegen. Es geht hier darum, daß sie eine Begünstigungspolitik des Nazifaschismus selbst betrieben hat, und das ist nicht zulässig.

 

„Man kann die Ideologie des Hitlerismus, wie auch jedes andere ideologische System, anerkennen oder ablehnen, das ist eine Sache der politischen Anschauungen.“ (S. 1128)

 

Solch ein Satz ist aus dem Munde eines Vertreters eines angeblich proletarischen Staates doch wohl merkwürdig.

 

„Doch wird jedermann begreifen, daß man eine Ideologie nicht mit Gewalt vernichten, daß man ihr nicht durch den Krieg ein Ende bereiten kann. Daher ist es nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg wie den Krieg für die ‚Vernichtung des Hitlerismus’ zu führen, einen Krieg, der drapiert wird mit der falschen Flagge eines Kampfes für die ‚Demokratie’.“ (S. 1128)

 

Hier wird noch weiter bestätigt, daß es keine gerechten Kriege geben könne, um den Hitlerfaschismus zu vernichten.

 

Der gesamte Artikel stellt eine hochgradige Reinwaschung nazifaschistischer Aktivitäten dar. Auch taktische oder diplomatische Erwägungen rechtfertigen in keiner Weise die Äußerungen Molotows, die sich in dieser Weise der nazifaschistischen Macht anbiedern, ja, sie sogar imitieren und nachäffen. Dies ist und bleibt Beleidigung des Sozialismus, und die damalige sowjetische Regierung  hat dafür die Verantwortung zu tragen. Und es ist die Frage, wie und wo zum Beispiel in der DDR ein solches Dokument behandelt wurde. Man muß fürchten, daß diesbezüglich praktisch eine vierzigjährige Schweigepflicht bestanden hat, und das geht natürlich nicht. So kann man kein sozialistisches Bewußtsein schaffen, indem man historische Fakten beiseite lügt.

Zur Rechtfertigung der sowjetischen Politik heißt es in der Rede Molotows:

„Bekanntlich sind unsere Truppen erst in das Territorium Polens einmarschiert, nachdem der polnische Staat zerfallen war und faktisch aufgehört hatte zu existieren.“ (ebda. S. 1129)

Dies ist auch die Interpretation Molotows, die das vorher abgesteckte Vorgehen zu rechtfertigen sucht. Zum Zeitpunkt des 17. September 1939 kämpften noch zahlreiche polnische Truppen im Osten Polens und es hätte durchaus sein können, daß sich die nazifaschistischen Truppen aufgrund der Ausdehnung des Gebietes noch längere Zeit verzettelt hätten, oder daß ein Untergrundkrieg gegen die deutsche Armee von seiten der polnischen Truppen sich entwickelt hätte. Aber  die deutschen Imperialisten konnten sicher sein, daß ihnen dieses nicht widerfuhr, da sie mit der Sowjetunion die entsprechenden Abkommen getroffen hatten. Zweifellos hat insofern dieses Abkommen auch den Angriff in dieser Form, in dieser schnellen Weise durch seine Absicherung mit möglich gemacht.

Über die nazideutsche Politik heißt es:

„Die Beziehungen Deutschlands zu den anderen westeuropäischen bürgerlichen Staaten wurden in den beiden letzten Jahrzehnten vor allem durch das Bestreben Deutschlands bestimmt, die Fesseln des Versailler Vertrages zu sprengen, dessen Schöpfer England und Frankreich unter aktiver Teilnahme der Vereinigten Staaten von Amerika waren. Das war es im letzten Grunde auch, was zu dem gegenwärtigen europäischen Krieg geführt hat.“ (ebda. S. 1129f.)

 

Genau das ist Reinwaschung des Nazifaschismus. Die gesamten Beziehungen des Nazifaschismus, auch die außenpolitischen, sind primär vom einem geprägt: unter dem Vorwand der Aufhebung von Versailles in Wirklichkeit bestialische Unterdrückung der Arbeiterbewegung nach innen zu betreiben und die gesamte revolutionäre Bewegung, nicht nur in Deutschland, sondern auf dem gesamten Kontinent zu vernichten. Das war das erste Antriebsmoment der nazifaschistischen Reaktion. Auch die Außenpolitik ist von diesem nazifaschistischen Grundcharakter nicht zu trennen. Lange schon war dies in der kommunistischen Bewegung entlarvt. Indem die nazifaschistische Politik als eine Politik der Aufhebung von Versailles definiert wird, wird die äußerliche Phrase der Nazis als Tatsache genommen. Das ist Anpassung an Naziideologie aus dem Munde des  sowjetischen Ministerpräsidenten und Außenministers. Daran gibt es nichts zu beschönigen.

Auf dieser Rolle reitend entwickelte sich dann der abenteuerliche, „va banque“ spielende Imperialismus der Nazis, der zum zügigen Scheitern verurteilt ist und den tatsächlichen Großmächten in Europa die Bahn bricht.

 

Die Situation des September 1939, die vom nunmehr ausgebrochenen Krieg in Europa geprägt ist,  löst in allen Völkern ein tiefes Bangen um die Zukunft aus, auch im deutschen, und dieses Mal gibt es keine Kriegsbegeisterung wie 1914, wie auch ein anderer Autor in dem Oktoberheft der „Kommunistischen Internationale“ festhält. [4] Die Wirkung des Betruges der deutschen Imperialisten hält sich in diesem Moment in Grenzen. Die sowjetische Politik aber stabilisiert in dieser Situation die Nazipartei in einer schlimmen Weise.

„Die kürzlichen Wirtschaftsverhandlungen der deutschen Delegation in Moskau und die augenblicklich vor sich gehenden Verhandlungen der sowjetischen Wirtschaftsdelegation in Deutschland bereiten eine breite Basis vor für die Entfaltung des Warenumsatzes zwischen der Sowjetunion und Deutschland.“

 heißt es bei Molotow.(S.1130) Und die Sowjetunion lieferte, ohne jedes Zögern und ohne jedes Hadern, die für den weiteren Krieg notwendigen Rohstoffe an Deutschland.

Im Jahre 1948 hielten England und Amerika, die mit der Sowjetunion in Konflikt geraten waren und ihrerseits gewissermaßen in die Fußstapfen der Nazis traten, der Sowjetunion zur eigenen Rechtfertigung diese politischen Dokumente vor, um sie zu denunzieren. Die Sowjetunion ihrerseits verwies darauf, daß sie auf die Intrigen und auf die gezielte Politik, die Nazifaschisten gegen sie aufzubauen, reagiert habe. Aber alle die Ausführungen, die da gemacht werden, rechtfertigen die Ausführungen des Wjatscheslaw Molotow in keiner Weise. Niemand hat ihn aufgefordert, sich bei den Nazis in dieser Weise anzudienern und damit faktisch auch den kommenden Krieg gegen die Sowjetunion mit zu begünstigen, denn es dürfte wohl klar  sein, daß die Inbesitznahme großer Teile Kontinentaleuropas durch die Hitlerfaschisten, die dann relativ leicht und mit Rückendeckung durch die Sowjetunion erfolgte, erst im vollen Umfange die Voraussetzungen für den Überfall von 1941 schuf.

So kindisch kann ja wohl niemand sein, schon gar nicht ein marxistisch-leninistischer Politiker,  daß er davon ausgeht, daß sich die Nazifaschisten in einer Kriegslage an ein sogenanntes Nichtangriffsabkommen halten. Die Nazifaschisten waren durch Mord und Terror an der Arbeiterbewegung groß geworden, sie hatten unzählige Male ihr Wort gebrochen, was für sie ganz offiziell überhaupt nicht zählte, also ist es schon für sich genommen eine unverzeihliche Kinderei, aufgrund eines solchen Vertrages auch nur irgendwie  anzunehmen, man habe verläßliche Garantien. Dies zeugt davon, daß man den Nazifaschismus überhaupt nicht richtig analysiert oder nicht richtig analysieren will. Die gesamten Ausführungen und Redereien Molotows sind eine einzige Ignoranz gegenüber dem Klassencharakter des Nazifaschismus und von daher eben bürgerliche und anbiederische Politik an denselben, die nicht den Anspruch irgendeiner historischen Größe oder Bedeutung erheben kann. Sie leitet in Wirklichkeit die kommende Epoche von 1941-45 mit ein.

Es muß hier in diesem Zusammenhang auch auf die immer vorgebrachte Argumentation eingegangen werden, dieser Vertrag und die Absprache über Polen hätten der Sowjetunion eine Atempause gegeben und ihre Westgrenze um 200 km nach Westen verschoben, somit einen Angriff schwieriger gemacht. Das hat aber eine andere Seite. Denn durch diese Absprache wurde am Schluß eine geschlossene Frontlinie des faschistischen Lagers von der Ostsee bis an das Schwarze Meer geschaffen, die dann auch die Ausgangsbasis für den großen Angriff wurde. Eben durch diese Teilung kamen die Sowjetunion und der erheblich vergrößerte Einflußbereich der Nazis direkt aneinander. Zuvor existierte der Gürtel der Zwischenstaaten, der ein Feld rivalisierender Einflußnahmen der Großmächte sowie der Eigenständigkeitsbestrebungen dieser Staaten selbst war. Diese Zone hatten die Nazis immer zwischen sich und der Sowjetunion, und dies verschwand nun. Das heißt, auch in militärischer Hinsicht hat dieser Vertrag durchaus seine widersprüchlichen Seiten.

 

Über die Vorgeschichte dieser Politik

Die Politik der Sowjetunion, die 1939 bis 1941 in diesem Verhalten gipfelte, ist auch nicht nur mit einem einzelnen Vertreter oder einer einzelnen Epoche verbunden. Die Ignoranz gegenüber dem Nazifaschismus in ihrem vollen Ausmaß läßt sich schon viel länger erkennen, weshalb man an dieser Stelle auch auf die Vorgeschichte dieses Vorganges eingehen muß.

Der Nazifaschismus ist aus der konterrevolutionären Bewegung von Ende 1918 bis 1920 hervorgegangen, als Bewegungen der Arbeiter und ganzer Arbeiterarmeen durch die Konterrevolution niedergehauen wurden. In dieser Schule entstand der Nazifaschismus und nahm bestimmte Elemente ultrareaktionärer, obskuranter und wissenschaftsfeindlicher Lehren in sich auf, darunter auch einen absurden und von Perversion geprägten, rassistischen Judenhaß, der in Wirklichkeit auch Bestandteil ihrer zivilisationsfeindlichen, gegen die deutsche Nation und ihre Grundsubstanz gerichteten Einstellung ist. Die Quellen des Antisemitismus sind älter, aber hier erringen sie einen gefährlichen systematisierten politischen Charakter. Deutschland, bis dahin  seit Jahrzehnten eine Macht der Wissenschaft, sollte durch diesen verbrecherischen Angriff bodenlos erniedrigt werden und in seiner ganzen nationalen Substanz angegriffen werden. Das sind die Tatsachen über den Nazifaschismus, der sowieso zutiefst feindlich gegenüber der gesamten Arbeiterbewegung, gegenüber dem revolutionären Klassenkampf eingestellt ist, aber auch gegenüber der Grundsubstanz revolutionärer Tradition in Deutschland selbst.

Unter dem Vorwand gegen den Versailler Vertrag zu kämpfen ging er in Wirklichkeit gegen die revolutionäre Grundsubstanz im Volke vor und handelte damit, wie einige sowjetischen Autoren wie A.I.Kunina [5]   sehr wohl zurecht aufzeigen, in Übereinstimmung mit entscheidenden Bankenkreisen der USA und Englands, weshalb ja auch der angebliche Antifaschismus dieser Westmächte unter dem Lichte dieser Tatsachen zu sehen ist. Aber es sind eben nicht nur die westlichen Alliierten, die solche schmutzigen Beziehungen entwickelten und hier gemeinsame Sache mit der schmutzigen Reaktion in Deutschland machten, sondern es sind leider auch in der Sowjetunion bestimmte Züge vorhanden, die politisch in keiner Weise zu tolerieren sind.

Schon Anfang der zwanziger Jahre griffen KPdSU-Vertreter über die Kommunistische Internationale in die Bewegung in Deutschland ein und versuchten eine Anbiederung an die damalige Nazibewegung, die sich auch im Konflikt um die Ruhrbesetzung durch Frankreich hervortat. Der Kominternvertreter Radek [6] hielt eine Lobeshymne für den Nazi Leo Schlageter, der ein Opfer der Kämpfe um die Besetzung des Ruhrgebietes war. In dieser Form einer Anbiederung und Verherrlichung war das vollkommen unzulässig und der Sache der nationalen Frage in Deutschland absolut abträglich, denn man kann nicht das Wesen einer solchen Bewegung nur nach der nationalen Frage beurteilen, sondern man muß sie auch von ihrem Klassencharakter, von ihrem ultrareaktionären Charakter her beurteilen. Einen sogenannten „Nationalismus“ auf dieser Grundlage kann man nicht unterstützen. 

Während des Kampfes gegen den Nazifaschismus intervenierte die KPdSU mehrfach zu ungunsten der KPD und schwächte den Kampf gegen den Nazifaschismus ab. 1933 kam die Nazibewegung, gestützt auf den Dawes- und den Youngplan, gestützt auf die alliierten Machenschaften an die Macht. Welche Rolle spielte nun aber die Sowjetunion und die Komintern? Man sollte meinen, daß alle Kraft darauf verwendet werden mußte, die nazifaschistische Okkupation zu verhindern, oder aber, wenn die Okkupation stattfand, sie in der Folgezeit zu Fall zu bringen.

Mit dem Sieg des Hitlerfaschismus 1933 hatte dieser noch keine Festigkeit.  Tiefe Risse zogen sich durch das faschistische Lager, die bis zum Kampf bis aufs Messer gingen und die in der blutigen Nacht des 30. Juni 1934 in Form der Vernichtung der Gegner Hitlers innerhalb der Nazibewegung ihren Höhepunkt fanden. Die Nazibewegung zeigte schon 1932 schwere Schwächen und erlitt einen Rückgang. Ende 1932 drohte der Zerfall der Bewegung, was zur internationalen Intervention führte: im Hause des international verbundenen Bankiers Schröder fand am 4.1. 1933 ein Versuch statt, die Situation der Nazibewegung zu retten und die Hitlerbewegung unter bestimmten Bedingungen an die Macht zu bringen. Wir wissen, daß diese Pläne mit dem 30. Januar 1933 in die Realität umgesetzt wurden.

Erst 1934 sehen wir, daß sich J. W. Stalin zu dieser Machtokkupation des Nazismus äußert. Und wie äußert er sich?  Er spricht von „schriftstellernden faschistischen Politikern“ in Deutschland, versucht diese anhand der antiken Römer zu widerlegen, argumentiert, daß eine solche Ideologie, sich ein solches agrarisches Gebiet wie Rußland unterzuordnen, nur Phantasie ist. Aber wo sind die klaren Aufforderungen und die klaren Anstrengungen, wo ist die ganze Arbeit, die man darauf richten mußte, diesen Umsturz wieder zurückzuschlagen und die Offensive dagegen zu gewinnen? Davon ist nichts zu spüren.

Der Internationalismus war auf das Äußerste geschwächt, die proletarisch-revolutionäre Politik war zunächst verletzt worden und dann zu einer formalen Hintergrundgeschichte geworden. Dies ist mit dem Marxismus-Leninismus nicht vereinbar. Im übrigen: Der Trotzkismus bildete keine Alternative dazu, verleugnete er doch gerade die Notwendigkeit der demokratischen Revolution, der Revolution in Etappen, und konnte deshalb im Kampf gegen den Nazifaschismus überhaupt nicht dienlich sein.

In den weiteren Jahren machte die Sowjetunion eine Politik der Diplomatie, mit der sie versuchte, mit bürgerlichen Staaten Konstellationen zu schaffen, die ihr angebliche Sicherheit verschaffen sollten. Die revolutionären Chancen, die sich für die Arbeiterbewegung ergaben, wurden nicht genutzt. Man kann nicht feststellen, daß die Sowjetunion in irgendeiner Weise massiv daran arbeitete, den inneren Kampf in Deutschland so zu stützen, daß der Nazifaschismus zu Fall kam.

Auf dem 18.Parteitag im März 1939 wiederum werden die imperialistischen Staaten in aggressive und nichtaggressive Mächte eingeteilt, wobei als nichtaggressive Staaten solche wie die USA, England und Frankreich definiert werden, obwohl doch gerade diesen vorgeworfen wird, aus dem Hintergrund den Krieg mit anzustacheln. Wenn man solche Vorwürfe gegenüber England, Frankreich und den USA und anderen imperialistischen Staaten erhebt, kann man sie nicht gleichzeitig zu „nichtaggressiven Staaten“ erklären. [7] Das sind vollkommene Widersprüchlichkeiten und Absurditäten, die in den Parteitagsberichten von J. W. Stalin auftauchen.

 

Die Fortführung dieser Linie

Alles das muß mit ins Kalkül gezogen werden, wenn man die Ausgangslage vor dem Zweiten Weltkrieg berücksichtigen will. Wir haben früher erklärt, man müsse sehen, daß die Sowjetunion in einer Zwangslage war und infolgedessen zu Kompromissen tiefgehender Art gezwungen war, die sich letztlich dann auch in einen Sieg umgemünzt haben. Dies läßt aber die fehlerhafte Politik, die vorher mit zu dieser Situation geführt hatte, aus. Und man hat auch damals aufgrund fehlender Einsicht in die entsprechenden Dokumente nicht berücksichtigt, daß diese Politik, die Wjatscheslaw Molotow und auch J. W. Stalin vertraten, viel weiter geht, als es solch ein Kompromiß erfordert. Eine Hätschelung des Nazifaschismus, wie sie hier erfolgt, ist mit dem Marxismus-Leninismus auch von diplomatischen Erwägungen her nicht zu begründen.

Wenn man diese im Grunde offenliegenden Tatsachen in Betracht zieht, muß man dies auch in die Bewertung der weiteren Verhältnisse während des Zweiten Weltkrieges mit einbeziehen. Die Nazifaschisten, die in dieser Weise hier seitens der Sowjetunion beschönigt wurden, fielen 1941 in die Sowjetunion ein und wüteten, mordeten und brandschatzten dort, wie es ihrer Natur entspricht. So wie sie vorher die Arbeiterbewegung niedergehauen und gebrandschatzt hatten, so gingen sie nun gegen das sozialistische Land in dem gesteigerten Maßstab vor. Ziel war die Ausrottung der revolutionären Bestrebungen in Rußland und im Osten auf Generationen. Die Sowjetunion erhob sich trotz der Schwächen, trotz der Fehler gegen diese nazifaschistische Macht und trug im Laufe hartnäckigen Kampfes den Sieg davon. [8] Dies werden wir niemals in seiner historischen Bedeutung geringschätzen, sondern wir haben immer betont, daß dies anerkannt werden muß.

Die Frage ist, ob nicht die Einseitigkeiten, die sich vorher in der Politik gezeigt hatten, nunmehr in anderer Form fortsetzten. Die gleiche Sowjetunion, die sich vorher in einer solchen unzulässigen Weise den Deutschen angenähert hatte, geht nun unter dem Zwang der Lage zu einer Bündnispolitik mit den USA und England über. Nun werden die Deutschen, bei denen während der nunmehr acht Jahre der Nazidiktatur jede revolutionäre Regung blutig unterdrückt  worden war, generell zu Schuldigen dieses Krieges erklärt.

Hatte es vorher zum Beispiel noch geheißen, unter dem polnischen Regime seien die in Polen lebenden  Deutschen massiv unterdrückt worden, so waren sie wie die in den deutschen Ostprovinzen lebende Bevölkerung nun die Schuldigen, daß sie den Angriff des deutschen Imperialismus begünstigt hätten. Dabei war es niemand anderes als die Sowjetunion selbst, die hier eine deutliche Verantwortung trifft, die sich in der oben beschriebenen unmißverständlichen Weise politisch betätigt hatte.

Welcher Art diese Bündnisbeziehungen mit den USA und Großbritannien waren, wird auch an den Verhandlungen in Teheran deutlich. Hier sei als ein Beispiel ein Zitat der Aufzeichnungen vom 29. November 1943 angeführt:

„ STALIN fragt, ob die Amerikaner, falls die von Roosevelt vorgeschlagene Weltorganisation geschaffen würde, Truppen nach Europa schicken müßten.

ROOSEVELT sagt, das sei nicht unbedingt so. Wenn es jedoch notwendig werde, gegen eine eventuelle Aggression Streitkräfte einzusetzen, so könnten die Vereinigten Staaten ihre Flugzeuge und Schiffe zur Verfügung stellen, Truppen müßten jedoch England und Rußland nach Europa bringen. Für den Einsatz von Streitkräften gegen eine Aggression gebe es zwei Methoden. Wenn die Gefahr einer Revolution oder Aggression oder eine andere Gefahr der Verletzung des Friedens entstehe, so könne das betroffene Land isoliert werden, um zu verhindern, daß sich der dort entstandene Brand auf  andere Territorien ausdehnt. Nach der zweiten Methode könnten die vier dem Komitee angehörenden Nationen dem betreffenden Land ein Ultimatum stellen, die friedensbedrohenden Aktionen einzustellen, da dieses Land andernfalls bombardiert oder sogar besetzt werde.“ [9]

In Gegenwart des Generalsekretärs der KPdSU erklärt Roosevelt also das System, das er aufbauen will, um revolutionäre Entwicklungen im weiteren zu verhindern und quasi zu verbieten, also ein Hegemonialsystem in Europa zu errichten, und ihm wird dabei in keiner Weise von Stalin widersprochen. Stalin antwortet darauf:

„ ... Er nehme an,  Deutschland könne schnell wieder aufgebaut sein. Dazu werde es insgesamt 15 bis 20 Jahre benötigen. Wenn Deutschland durch nichts gehindert werde, so fürchte Stalin, werde es sich bald wieder erholt haben. Dafür benötige Deutschland nur wenige Jahre. Der erste große von Deutschland begonnene Krieg von 1870 endete 1871. Insgesamt 42 Jahre danach, das heißt im Jahre 1914, begann Deutschland einen neuen Krieg. Nach wiederum 21 Jahren, das heißt im Jahre 1939, entfachte Deutschland erneut einen Krieg. Die für die Wiederherstellung Deutschlands notwendige Frist verkürze sich also offensichtlich.“

Hier werden die verschiedensten geschichtlichen Ereignisse durcheinandergebracht. Der Krieg von 1870/71 hatte einen anderen Charakter als die imperialistischen Kriege später. Überhaupt ist es so, daß  die Kriege nicht dadurch entstehen, daß die Deutschen Kriege machen, sondern Kriege entstehen dadurch, daß das kapitalistische und imperialistische System mit Notwendigkeit Konflikte in dieser Weise hervorbringt. Auch das, was hier vertreten wird, steht nicht auf historischer materialistischer Grundlage. Es braucht auch bei Verhandlungen mit einem solchen imperialistischen Vertreter wie Roosevelt keine solche Rede gehalten zu werden. Der gesamte Tenor, der auf dieser Konferenz angeschlagen wird, läuft darauf hinaus, daß man die Einflußsphären absteckt  und Gebietsansprüche und ähnliches stellt und eine sogenannte „Friedensordnung“ schaffen will. Natürlich hat das nicht funktioniert. Kaum wenige Jahre nach diesem Krieg war die Konfliktlage da und die Sowjetunion mußte feststellen, daß sie einen noch größeren Gegner vor sich hatte als vorher Nazideutschland. Anders konnte es auch gar nicht sein. Bei alledem wird als Gegenargument angeführt, daß dies durch die objektive Lage erzwungen war. Wichtig ist, daß die Sowjetunion faktisch eine Politik, sich auf das internationale Proletariat und deren Bundesgenossen zu stützen, jede Politik etwa einer revolutionären Einkreisung  des Nazifaschismus selber unterminiert hat und damit auch die Bedingungen für die folgende Kriegslage 1941-45 mitgeschaffen hat. Diese Außenpolitik ist von Elementen des russischen Chauvinismus durchsetzt. Um diese Feststellung kommt man nicht herum.

1943 wurde in Konsequenz dieses Vorgehens die Kommunistische Internationale aufgelöst. Die Begründung ist mehr oder minder die, daß diese Kommunistische Internationale nicht mehr fähig war, irgend etwas zu leisten. Das stimmt in gewisser Weise, das war sie wirklich nicht und sie hat auch viele Sachen in unmöglicher Art und Weise behandelt. Aber die KPdSU hatte daran einen entscheidenden Anteil. Das muß hinzugefügt werden.

Die Sowjetunion führte diese Politik konsequent weiter. Es kam zum Potsdamer Abkommen, das bekanntlich die Forderung nach einer faktischen Deindustrialisierung Deutschlands in Kernbereichen [10] beinhaltete, eine Forderung, mit der man sich noch wird auseinandersetzen müssen. Ferner kam es zur Säuberung jahrhundertealter deutscher Territorien zugunsten Polens, das in der Anfangsphase noch als Aggressor gegen Deutschland bezeichnet worden war, völlige Ungereimtheiten, und zur Verschiebung Polens auf der Landkarte um mehrere hundert Kilometer von Rußland weg in Richtung Deutschland, ein einmaliger Vorgang in der europäischen Geschichte der Neuzeit.

Faktisch wurden hier Praktiken, wie sie vorher von den Nazis propagiert worden waren, in einer anderen Weise umgesetzt, allerdings zum Nachteil Deutschlands. Das könnte unter Umständen einen befriedigen, daß man sagt, diejenige Macht, die vorher solche Verbrechen gegen andere Nationen lauthals  vertreten und praktiziert hat, bekomme nun selbst solche Maßnahmen zu spüren. Aber die Begründung, die die Sowjetunion dafür liefert, ist nicht die Bestrafung Deutschlands, die dies in gewisser Weise rechtfertigen würde, sondern weil es sich um „alten slawischen Boden“ handele. Und wenn man die Argumentation bringt, daß es alter slawischer Boden sei, begibt man sich selbst auf die panslawistische, auf die rassistische und faschistische Argumentationslinie. Und das können wir nicht wegnehmen.

Es soll hier angemerkt werden, daß diese Auseinandersetzung in unserer Organisation bereits 1972 existierte. Schon damals kam es anläßlich redaktioneller Arbeiten zu einer Diskussion unter  anderem über das Bombardement  Dresdens  und auch zu Fragen, wie man diese obengenannte Abtretung der Gebiete mit der damit verbundenen Austreibung bewerten solle. Wir hießen es gut, weil man Deutschland für die Taten des Nazifaschismus bestrafen mußte. Als wir aber entdeckten, daß dem eine panslawistische, rassistische Argumentation mit „altem slawischen Boden“ zugrunde gelegen hatte, lehnte die Parteileitung es ab, eine solche Bewertung in unsere Literatur aufzunehmen. Als dann einige Leute merkten, daß hier Widerstand gegen solche Argumentationen vorgebracht wurde, kam es zu üblen Versuchen, von innen her Umstürze in der Organisation zuwege zu bringen. Man sieht an diesem Beispiel, daß wir damals schon gegen eine Art „antideutsche“ und faschistische Hetze argumentieren mußten und daß dieser Konflikt innerhalb der Bewegung uralt ist. Das waren natürlich nur erste Ansätze einer Kritik, denn wir kannten die Dokumente der Komintern zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

 

Die Feststellungen bedeuten keine Entlastung für imperialistische Staaten

Für die Westmächte gilt, daß alles das, was wir hier ausgeführt haben, nicht entschuldigt, daß sie in der Tat immer versucht haben, Deutschland gegen die Sowjetunion zu lenken, und dadurch haben sie auch einen Anteil an dieser Kriegspolitik.

Für die deutsche Bourgeoisie gilt, daß ihre eigene Verbindung mit dem Nazifaschismus, die Übernahme der verbrecherischen Theorie der Nazis zugunsten ihrer eigenen imperialistischen Bestrebungen, sich weder durch die Tätigkeit der westlichen Mächte, noch durch die Fehler und massiven Ausfälle der Sowjetunion rechtfertigen lassen. Für die Deutschen bleibt es unbedingt notwendig, sogar vorwiegend, diese Kritik von innen an dieser  feindlichen rassistischen, faschistischen Lehre zu betreiben. Trotzdem kann nicht außer Acht gelassen werden, daß  die sozialistische Bewegung diese Fehler hatte. Diese Fehler führen nämlich in der Fortsetzung zu der falschen, erniedrigenden Theorie, wie sie z.B. bei den Antideutschen hervorkommt und solche Blüten wie in der Diskussion um Dresden treibt. Bringt man diese Argumentation auf den Punkt, dann läuft sie darauf hinaus, daß die deutsche Nation ein Grundübel an sich ist, die man zugunsten „des Friedens“ niederhalten muß. Eine metaphysische, extrem reaktionäre Theorie, die aber ihre Vorbereitungen in den hier geschilderten geschichtlichen Bewegungen hatte.

Schlußendlich ist es notwendig, daß klar auch die Schwächen der Bewegung, wie sie in der Komintern vorhanden waren, wie sie in der Sozialdemokratie vorhanden waren und wie sie in der Sowjetunion vorhanden waren, behandelt werden, denn nur über die Beseitigung der Fehler, wie sie in der Vergangenheit vorhanden waren, werden wir in der Zukunft ein Stück vorankommen.

21.3./12.4.05                                                                                      

 

 



[1]   Wjatscheslav Michailowitsch Molotow, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare 19.12.1930 bis 7.5.1941 und Außenminister in der Zeit vom  4.5.1939 bis zum 5.3.1949

 

[2]   Ausgabe in deutscher Sprache: „Rede des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten MOLOTOW vor dem Obersten Sowjet der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, Verlag „Freie Schweiz“ Zürich, 1939, S.12.  Als Datum der Rede ist hierin der 1.September angegeben. In anderen Quellen, etwa dem „Archiv der Gegenwart“, wird die Rede mit dem 31.8.1939 datiert, wann sie auch stattgefunden hat, am 1. September 1939 wurde sie in der Prawda veröffentlicht.

 

[3]   Es handelt sich um Molotows Bericht „Über die Außenpolitik der SU“, den er als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der UdSSR und Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten auf der Außerordentlichen Fünften Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR am 31. Okt. 1939 vorgetragen hat.

 

[4]   Die Kommunistische Internationale, Heft Oktober 1939, Leitartikel „Die Kriegsverbrecher“, S.1033ff.

 

[5]   A.I.Kunina, „Das Fiasko der amerikanischen Weltherrschaftspläne 1917-1920“, Dietz-Verlag Berlin 1953, „Das wahre Gesicht des amerikanischen Imperialismus“ Dietz-Verlag 1954, z.B. S.70ff

 

[6]   Karl Radek (1885-1939), Mitglied des ZK der KPR(B) und Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (dessen Sekretär 1920-1924) , 1927 ausgeschlossen aus der Partei, 1938 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

 

[7]   Bei Stalin heißt es auf dem 18.Parteitag der KPdSU(B) am 10.März 1939:

 

“Somit vollzieht sich vor unseren Augen eine offene Neuaufteilung der Welt und der Einflußsphären auf Kosten der Interessen der nichtaggressiven Staaten, wobei diese keinerlei Versuche zur Abwehr unternehmen, in gewisser Weise sogar jene begünstigen.

Unglaublich, aber wahr.“    (Stalin Werke Bd.14, S.187)

 

Die USA, England und Frankreich werden trotz der Analyse ihrer Hintergrundrolle auch im weiteren, also durchgängig, als „nichtaggressive“ Staaten bezeichnet.

Kein Wunder, daß sich Molotow um eine „Umdefinition“ bemühen muß.

 

[8]   Man vergleiche hierzu das Buch des sowjetischen Armeegenerals Konjew „Das Jahr 1945“, in dem er darstellt, wie auf Grund von Erfahrung und Praxis neue Kommandeure in dem Krieg bis zum Jahre 1945 heranwuchsen, die zahlreiche der usprünglichen ablösten, da sie den Aufgaben nicht gewachsen waren.

 

[9]   aus: „Teheran – Jalta - Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der ‚Großen Drei’“ Hrg. Alexander Fischer, 3. Aufl. Köln 1985, S. 47 (Unterredung Stalin- Roosevelt v. 29.11.1943). Dieser Band enthält die sowjetischen Dokumente noch ergänzt durch - kenntlich gemachte -zusätzliche Aufzeichnungen von  Teilnehmern aus USA und Großbritannien auf der Konferenz. Man vergleiche auch „Teheran-Jalta-Potsdam“, Dokumentensammlung, Röderbergverlag, S.65-66 mit ganz ähnlicher Übersetzung

 

[10]   Es hieß im  Potsdamer Abkommen zum Beispiel unter Politische Grundsätze, Punkt 13:

 

„Bei der Organisation des deutschen Wirtschaftslebens ist das Hauptgewicht auf die Entwicklung der Landwirtschaft und der Friedensindustrie für den inneren Bedarf (Verbrauch) zu legen.“

 

Die Entwicklung Deutschlands von einem agrarischen Staat zu einem Industriestaat mit den Bereichen Schwerindustrie, chemische Industrie und Maschinenbau war die Grundlage der kontinentalen Industrialisierung überhaupt, und noch wichtiger, sie war die Grundlage der modernen Arbeiterbewegung, ohne die es die Bolschewiki gar nicht gegeben hätte. Dies nimmt die Grünen in gewisser Weise vorweg. Daß sich dieses Programm nicht durchführen ließ, hing mit seiner Unverträglichkeit mit der gesamten europäischen Situation zusammen, aber auch mit dem revolutionären Druck, etwa der chinesischen Revolution, die die gesamte politische Gemengelage nach 1945 veränderte. Aber die Absicht dazu bestand!