Internet Statement 2007-67

 


Hartz IV: Schulkinder müssen hungern, Verarmung und Verwahrlosung nehmen weiter zu

Die Erfahrungen des bisherigen Kampfes ernst nehmen und radikalere Konzepte entwickeln!

27.7.2007          

Seit zweieinhalb Jahren gilt das wichtigste der sog. Hartz-Gesetze, das AlG II. Mehr als 7 Millionen Menschen leben inzwischen unter diesem Regime.

Von Anfang an haben wir, haben sozial denkende Menschen und Betroffene gesagt, daß Kapital und Staat ein rücksichtsloses Verarmungsregime gegen erhebliche Teile der Bevölkerung anstreben, weitaus rücksichtsloser als unter den vorherigen Verhältnissen, und daß die Hartz-Gesetze wesentliche Werkzeuge dabei sind. Das kann heute von niemandem mehr bestritten werden. Inzwischen stehen viele Millionen Menschen unter einem derartigen finanziellen Druck, sei es durch AlG II, sei es durch Zeitarbeit und andere Niedriglohn-Bedingungen, daß es gerade zum Überleben reicht. Gesundheit, Bildung, Zukunftsvorsorge fallen flach. Für viele reicht es nicht einmal mehr zu normaler Ernährung. Das alles ändert sich durch den sog. Wirtschaftsaufschwung nicht.

Daß die Hartz-Bestimmungen für schulpflichtige Kinder Tagessätze von +/- 2,50 Euro für die Ernährung vorsehen, nicht einmal die Hälfte der für die Entwicklung erforderlichen elementaren Nahrungsmittel, daß inzwischen Hunderttausenden von Kindern und Jugendlichen die Mangelernährung staatlich verordnet wird, muß in der ganzen Gesellschaft zum Topthema werden, zur Anklage gegen diesen Staat.

Für Millionen von Hartz-IV-Betroffenen ist der Kauf eines Buches oder eines Geschenks für Kinder zum schweren Problem geworden.

Die Behandlung, die diese Menschen, und unter ihnen in besonderem Maße die Kinder und Jugendlichen durch diesen Staat erfahren, straft alle Tiraden der Politiker Lügen. Die Hartz-Bürokratie werde die Eingliederung ins Arbeitsleben verbessern, hieß es. In Wirklichkeit wurden noch mehr Menschen in ein Abseits der Chancenlosigkeit gedrängt, in dem sie gerade noch am Leben gehalten werden, in dem sie sich kaum noch selbst um eine Verbesserung ihrer Lage bemühen können - während maßgebliche Kreise in Kapital und Staat in den Hinterstuben längst schon dabei sind, ihr vorzeitiges Ableben zu organisieren. Ganz im Gegensatz zu den öffentlichen Tiraden, daß man die Jugend als Zukunftsträger sehe, ihre Bildung und ihre Berufschancen verbessere, werden wir Zeugen, wie Hunderttausende von Kindern in der Schule hungern und die Mittel zur Teilnahme am kulturellen und sportlichen Leben gestrichen sind, ganz abgesehen von der ständig steigenden Idiotie angepaßter Büffelei, die die höheren Lehranstalten praktizieren, und der ständigen Verengung der Zugangs- und Abschlußchancen an den Hochschulen. Man bekommt den Eindruck, daß die herrschenden Kreise, ganz im Gegensatz zu manchen öffentlichen Bekundungen, die eigene Jugend, den eigenen Nachwuchs gar nicht wollen.

Die Realität der heutigen Bundesrepublik sieht so aus, daß erhebliche Teile der Bevölkerung in die Verarmung gedrängt werden, daß wachsende Teile der Jugend keine Berufschancen mehr haben, und daß soziale Verwahrlosung und Verrohung, gerade auch aufgrund solcher Bedingungen, sich ausbreiten. Das ist eine Herausforderung, keineswegs nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern für die ganze Gesellschaft.

 

Was kann getan werden?

Zunächst ist eine Bilanz des bisherigen Kampfes gegen die soziale Entrechtung durch die Hartz-Gesetze notwendig.

Obwohl 2003/4 einige Großdemonstrationen organisiert werden konnten und der Protest sich elementar artikulierte, blieben die alte wie die neue Regierung ungerührt und setzten ihre Politik fort. Es wurde noch kein Mittel gefunden, Änderungen zum Positiven zu erzwingen. Das hängt nicht nur mit der eiskalten Mentalität der Politikerkaste und eines großen Teils der Sozialbürokratie zusammen, sondern auch mit den politischen Schwächen der Gruppen, die sich den Kampf gegen die Hartz-Gesetze zur Aufgabe gemacht haben. Bis heute dominieren hier die Auffassungen, die nicht sehen oder sehen wollen, daß wir es hier mit der unvermeidlichen Aggressivität des gesamten Kapitalismus zu tun haben, so wie er sich gerade in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg entwickelt hat.

Es war von Anfang an ganz falsch, nur eine „neoliberale Richtung“ kritisieren zu wollen und andere Richtungen des Kapitalismus demgegenüber zur Hilfe anzurufen, vor allem das sog. Sozialstaatsprinzip. Die fortschreitende Deindustrialisierung des Landes, die Streichung von Millionen Arbeitsplätzen des herkömmlichen Lohnniveaus bzw. ihre Ersetzung durch ausgesprochene Niedriglöhnerei, teilweise unter dem Existenzminimum, die Versetzung von Millionen von Menschen in eine Lage, in denen sie überhaupt keine Aussicht auf irgendeine bezahlte Arbeit mehr haben, das ist die Richtung des Kapitals insgesamt, die zudem von allen Parteien in der Praxis unterstützt und gefördert wird. Das Kapital kann heute auf die milliardenfache Armut auf der Welt, das fast unbegrenzte Angebot billigster Arbeitskräfte zurückgreifen und sie gegen die Beschäftigten der früher entwickelten Länder ausspielen. Das ist nicht das Ergebnis eines neoliberalen Denkens, sondern die unvermeidliche Bewegung des Kapitals nach dem Umsturz des Sozialismus in China und dem Verschwinden des früheren Machtblocks der Sowjetunion.

Der Kapitalismus, der in Deutschland herrscht, ist seit langem bestrebt, die Abhängigkeit von der eigenen arbeitenden Bevölkerung zu vermindern, um sich von ihren Forderungen unabhängig zu machen. Er setzt immer größere Teile matt, indem er auf das internationale Angebot an Arbeitskräften zurückgreift. Die eigene Bevölkerung ist diesem Kapitalismus nicht nur eine Bedrohung wegen ihrer unausrottbaren Tendenzen zur sozialen Emanzipation, sondern sie ist ihm inzwischen in größerem Umfang entbehrlich-lästig. Für das Kapital sind hier Dutzende von Millionen inzwischen „unnütze Esser“, Kostenbelastungen, von denen es sich zu trennen gilt, und das Hartz-Regime bringt diese Interessen zum Ausdruck. Noch ganz andere Verelendungsprogramme bis hin zur Euthanasie werden längst im Hintergrund geschmiedet. Das ist Kapitalismus, so und nicht anders verhält er sich nun einmal, wenn er nicht von revolutionären Bewegungen bedroht ist, und diesem Kapitalismus muß man sich konfrontieren, wenn von Kampf gegen soziale Entrechtung die Rede sein soll.

Daran waren von Anfang an die in der Sozialbewegung verbreiteten Vorstellungen zu messen. Zur Finanzierung besserer Sozialleistungen die Staatsschulden noch weiter erhöhen oder auch die Reichen stärker zu besteuern, wie es anfangs meist hieß – das ist Pipifax gegenüber dem Kapital. Die Staatsverschuldung ist nach aller Erfahrung ein Mittel, die Reichen reicher zu machen und den Druck auf die breite Bevölkerung zu erhöhen. Zeitweise dient sie auch dazu, dieser Sand in die Augen zu streuen, um später die Rechnung umso brutaler zu präsentieren. Von einer Besteuerung der wirklich Reichen kann in einem Land, in dem das Kapital herrscht, sowieso nicht die Rede sein. Wer so etwas heute noch vertritt, macht sich lächerlich.

Es gibt bisher auch keine politische Partei in diesem Lande, die den Kampf gegen die soziale Entrechtung unterstützt. Über die inzwischen formierte Linkspartei wird noch zu reden sein. Die Sozialdemokratie, die ihren Rückhalt insbesondere auch in der Sozialbürokratie des Kapitals hatte und hat, und die Grünen waren sogar in einer entscheidenen Phase besonders fanatisch in der Durchsetzung der Entrechtung. Die Regierung Schröder-Fischer trieb die Deindustrialisierung radikal voran. Das Konzept der Dienstleistungsgesellschaft war das konzentrierteste Programm in dieser Hinsicht. Gleichzeitig brachte sie die Hartz-Gesetze auf den Weg, in diesem Sinne völlig konsequent. Die Konservativen stehen mit auf dieser Entwicklung, sie wollen die Sätze weiter senken und arbeiten an der Ausschnüffelung der gesamten Bevölkerung. Mit Bürgerkriegsmanövern wie jüngst bei dem G8-Gipfel bereiten sie die bewaffnete Unterdrückung von sozialen Bewegungen konkret vor.

Ohne daß in den Blick kommt, was der Kapitalismus in den letzten 30 Jahre aus diesem Land gemacht hat, ohne daß man sich damit befaßt, was Kapitalismus überhaupt bedeutet, ohne daß man innewird, daß es sich bei alledem um Klassenkampf handelt, in dem letztlich nur revolutionäre Bewegungen zählen, wird sich der Weg nach unten nicht stoppen lassen.

 

Das „Bürgergeld“

Es gibt immer noch Wunschträume wie, es möge doch ein staatliches System gefunden werden, das mit dem Kapital ansehnliche Sozialleistungen vereinbart. In der Form des „Bürgergeldes“ oder des „bedingungslosen Grundeinkommens“ haben sie in den Resten der Sozialbewegung Verbreitung gefunden, allerdings auch dort erfreulicherweise nicht unwidersprochen. Angeblich kann hierdurch mit einem Schlag eine ganze Reihe von Widersprüchen elegant gelöst werden, die Finanz- und Sozialbürokratie werde zu einem guten Teil überflüssig, dadurch würden viele Milliarden gespart, usf. Wir haben uns schon früher damit auseinandergesetzt. Hier wird erwartet, daß der Kapitalismus, vertreten durch den von ihm kontrollierten Staat, den Millionen im Lande, derer er nicht mehr bedarf, deren Erhaltung ihn im Konkurrenzkampf mit anderen Kapitalzentren belastet und derer er sich entledigen möchte, sozusagen ein „anständiges Grundsalär“ gewährt. Das kann nur nach hinten losgehen, weil der Kapitalismus jedwede Sozialleistung, ob sie über die bisherige Sozialbürokratie oder über ein Grundeinkommen verteilt wird, aus der Arbeit derjenigen herauspreßt, die ihm hierzulande und weltweit als aktive Arbeitskräfte dienen. Eine scheinbar einvernehmliche, gesellschaftlich harmonische Ersetzung der Politik der Verwerfung von Millionen, die allein schon in diesem Lande auf dem Aussterbeetat stehen, durch solche Umschichtungen ist eine Illusion, und selbst wenn so etwas teilweise hier zeitweilig zustande käme, würde in jedem Fall die Ausbeutung an anderer Stelle verschärft werden, vor allem international, d.h. es würde sich aus verschärfter Unterdrückung anderswo nähren, was nicht vertretbar ist. Es kommt gerade darauf an, dieses Ausbeutungssystem international gemeinschaftlich zu bekämpfen. Sollen wir hier Frieden für uns fordern im Wissen, daß unser Kapital anderswo den Krieg verschärft? Man sollte sich auch nicht der Illusion hingeben, das Kapital würde längerfristig derartige Zusagen einhalten, wenn es sich überhaupt aus momentaner Opportunität darauf einmal einlassen sollte. Solche Vorstellungen bedeuten noch mehr politische Auslieferung an den Kapitalismus. Man würde sich von den Möglichkeiten des Zusammenschlusses mit den Arbeitenden und Arbeitslosen der anderen Länder abkoppeln, und das Kapital würde sich umsoweniger davon abhalten lassen, die Massen zu ruinieren.

 

Zur neugegründeten Partei „Die Linke“

In den Augen mancher Betroffener dürfte die Formierung der Partei „Die Linke“ jetzt eine Chance für einen erfolgreicheren Kampf gegen die Entrechtung durch Hartz IV bilden. Nun ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, daß eine solche Partei unter Umständen Möglichkeiten hätte, den Kampf neu zu beleben und auf einer höheren Stufe zu führen. Sie könnte ihn zentralisieren, ihn propagieren und auch im parlamentarischen Geschäft die Verhältnisse anprangern, die hier inzwischen Alltag sind. Voraussetzung wäre, daß diese Partei oder wenigstens erhebliche Teile davon überhaupt dazu bereit sind. Aber dafür gibt es, bisher wenigstens, wenig Anzeichen. Teile kommen selbst aus der bisherigen Sozialbewegung, andere bilden Verbindungen in die Gewerkschaftsapparate, und es gibt auch solche Teile, die in der Regierungsbeteiligung in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sich bisher in der Durchführung des Verelendungsregimes zweifelhafte Verdienste erworben haben. Diese Partei versucht ebenfalls, das Problem Kapitalismus klein zu reden, sie hat offenbar kaum Sinn für internationale Solidarität der Arbeiter- und Sozialbewegung und wirkt mitunter sogar direkt nationalborniert, sie versucht es mit den alten heuchlerischen Sozialstaats-Versprechen der SPD und vertritt zumindest in Teilen auch das „Bürgergeld“.

Alleine die Existenz der „Die Linke“ erschüttert allerdings das bisher gültige Parteienschema des Landes. Insbesondere droht der SPD der weitere Niedergang in Form der verstärkten Abwanderung von Wählern, Funktionären und Mitgliedern. Die SPD hat jede Art von Bestrafung für ihre Destruktions-Politik verdient, sie muß zerstört werden, nicht anders als die konservativen oder liberalen Parteien und natürlich Neonazis und Grüne. Von daher könnte man sagen: weiter so! Die Führung à la Lafontaine allerdings hat an einer Entwicklung in diese Richtung eher nur ein begrenztes und nur taktisches Interesse. Sie steuert mehr eine Renovierung des Sozialdemokratismus an, bspw. auch die Koalition mit der SPD, und bildet von daher selbst eine Gefahr für den Kampf gegen die soziale Entrechtung, für die Entwicklung einer international orientierten Arbeiterbewegung.

Wir gehen davon aus, daß die soziale Realität von Hartz IV, Hungerlöhnen und weiterem Niedergang von Industrie, Wissenschaft und Bildung intensivere Diskussionen über das kapitalistische Regime auslösen wird und die Menschen dazu zwingen wird, Farbe zu bekennen. Natürlich ist es gut, wenn auch in den Gruppen der bisherigen Sozialbewegung, auch in solchen Organisationen wie der Linkspartei und ihren oppositionellen Gruppen die Widersprüche zur Belebung der Diskussion und zu wirksameren politischen Konzepten führen. Wir sind zur Diskussion und Kooperation mit allen bereit, die die bisherige Blockade gegen Klassenkampf und Internationalismus nicht mehr wollen.


Redaktion NE  27.7.2007

 

 

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