Internet Statement 2020-31

 

 

 

Zu einem Artikel zur sogenannten „Hygienedemo“ am Rosa-Luxemburg-Platz auf Indymedia

 

 

Wassili Gerhard  07.05.2020

Der Artikel aus Indymedia mit der Adresse https://de.indymedia.org/node/78469 „(Berlin) Zur ‚Hygiene Demo‘ am Rosa Luxenburg Platz“ thematisiert diese sogenannte „Hygienedemo“, daß sich auf dieser immer mehr Rechte alter Art bis hin zu Neonazis tummeln, die teilweise überhaupt gegen Schutzmaßnahmen Stimmung machen. Er fängt auch eigentlich erst einmal relativ gut an, indem man darstellt, daß hier etwas (was möglicherweise anfänglich anders gemeint war) zunehmend von Rechten unterwandert und vereinnahmt wird. Das wird natürlich zu Recht angegriffen. Es heißt:

„Dieses Event entwickelt sich gerade zum Sammelbecken und Organisationspunkt verschiedener teilweise verschwörungstheoretischer, aber vor allem auch offen rechtsextremer Menschen, Gruppen und Strukturen. Für uns als radikale Linke sollte sich nicht die Frage stellen, ob, sondern wie wir hier eingreifen und agieren wollen und können.“

Viel später imText schreibt der Verfasser auch:

“Eine Einschätzung, wie viele der Teilnehmer*innen auf dem Rosa Luxemburg Platz bei antifaschistischen Interventionen die Antifaschist*innen unterstützen würden, etwa wenn es darum geht, erklärte Nazis, Rechte und Antisemit*innen zu vertreiben, wagen wir hier nicht abzugeben. Wir glauben schon, dass es Menschen auf der Kundgebung in Mitte gibt, die Nazis und Rechte auch doof finden, und schön fänden wenn diese von der Kundgebung verschwänden. Wie viele das sind, wissen wir nicht.“

So weit so gut und auch weitgehend richtig. Aber das wird leider verdorben durch anderes, das ich nicht unwidersprochen stehen lassen kann. So heißt es über einen gewissen Ken Jebsen (KenFM):

„Kurz vor der Kundgebung am Samstag wurde von KenFM getwittert: „Deutsche gehorchen wie 1933! Unbegrenzt in Dauerhaft!"
Damit wird zum einen die Realität für verfolgte Menschen unter der Nazi-Diktatur beschönigt. Zum anderen wird zum Ausdruck gebracht, dass laut KenFM schon 1933 die Deutschen vor allem Gehorchende waren – und keinesfalls die Täter*innen.

Mal abgesehen davon, daß „Gehorchende“ und „Täter*innen“ überhaupt kein Gegensatz sein muß. An Ken Jebsen gibt es genug zu kritisieren, so seine Zusammenarbeit mit solchen Rechten, die Unterstützung aus Rußland genießen. Aber warum wurde ausgerechnet dieses Zitat auf Twitter herausgesucht? 1933 gab es allerdings Millionen Unterdrückte und die Nazis waren auch nicht in der Lage, durch Wahlen an die Macht zu kommen, hatten keine Mehrheit hinter sich, sondern konnten das nur durch Begünstigung der herrschenden Klassen, barbarische Unterdrückung und Manipulation. Es waren nicht 1933 alle automatisch Täter und es haben auch nicht alle einfach „gehorcht“, wie Jebsen meint. Die Legende vom „Tätervolk“, das sich seine Nazis quasi herbeiwünschte und ab 1933 ein Volk von Nazis war, argumentiert letztlich selbst völkisch, indem es politische Vorgänge auf Eigenschaften eines Volkes zurückführt.

Bei der letzten noch halbwegs formal „freien“ Wahl im November 1932 (Die Bezeichnung „frei“ ist schon fraglich, denn zunehmend regierte Reichspräsident von Hindenburg mit diktatorischen Vollmachten, ernannte Regierungen, löste Parlamente auf) kamen die Nazis nur auf ein Drittel der abgegebenen Stimmen. Selbst bei der Wahl davor, mit dem insgesamt besten Ergebnis für die Nazis, hatten KPD und SPD zusammen fast gleich viele Stimmen, wobei die KPD anteilmäßig zunahm und die SPD ab. Machtzirkel der Konzerne und in- und ausländische Finanzkreise sowie Kreise der Führungskaste der Reichswehr, zu der auch Präsident Hindenburg gehörte, ein typischer Vertreter der aristokratischen Junkerkaste, handelten dann in Konsultationen untereinander aus, daß Hitler die Kanzlerschaft in einer Koalitionsregierung mit der DNVP zugeschanzt werden sollte. Das ist heute relativ gut nachverfolgbar.

Im Januar 1933 wurde die neue Koalitionsregierung gebildet, die über keine Mehrheit im Parlament verfügte. Im Rahmen des Reichstagsbrandes Ende Februar 1933 wurde dann ein völliges Terrorregime errichtet. Eine auch nur formal demokratische Wahl gab es seitdem nicht mehr. Die zur offiziellen Hilfspolizei ernannte SA verschleppte potenziell jeden, der ihnen nicht paßte, in ihre Folterkeller. Anhänger der KPD, auch viele SPD-Anhänger und andere unliebsame Kräfte wurden Opfer, wurden per Folter gebrochen, wurden in die Illegalität gedrängt wie auch viele andere Gegenkräfte. Und daß die Deutschen mit jüdischen Vorfahren auch dazugehören, sollte klar sein, auch wenn oft so getan wird, wie das auch Antisemiten tun, als hätten sie nicht zu den Deutschen gehört. Auch die These vom Tätervolk macht hier offenbar selbst eine völkische Unterscheidung.

Selbst unter diesen Bedingungen des schon bestehenden Terrorregimes gegen die hauptsächlichen Gegenkräfte konnten die Nazis keine Mehrheit bei der Wahl erringen. Sie steigerten ihr Ergebnis nur um 10 Prozentpunkte auf rund 43 Prozent. Selbst unter diesen Terrorbedingungen hatten KPD und SPD trotz der Unterdrückung ihres Wahlkampfes zusammen noch über 30 Prozent. (Und 20 Prozent der Wahlberechtigten gingen außerdem nicht wählen) Dieses Wahlergebnis von März 1933 war illegal, aber so von entscheidenden Kreisen der herrschenden Klasse gewollt. Auch das „Ermächtigungsgesetz“ gleich danach konnte nur die nach der Verfassung nötige Zweidrittel-Mehrheit erreichen, weil die gewählten Abgeordneten der KPD, die trotz ihrer Unterdrückung und der Unterbindung ihres Wahlkampfes noch gut 12 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen hatte, an der Teilnahme gehindert waren. Damit war auch diese Abstimmung eine illegale Manipulation, an der die SPD garnicht hätte teilnehmen sollen.

 

Die Naziherrschaft wurde also der Mehrheit der Menschen, vor allem den Arbeitern eindeutig aufgezwungen, weil die herrschende Klasse sich nicht mehr anders zu helfen wußte. Das deutsche Kapital und auch besonders die im Offizierskorps dominierenden Junker waren nach dem ersten Weltkrieg in einer Lage gegenüber den internationalen Rivalen mit dem Rücken an der Wand. Und in einer solchen Lage vertrat Hitler im Interesse des reaktionärsten Teils der herrschenden Klassen eine verbrecherische Konzeption, sich erst einmal zum Werkzeug der größten Sieger des ersten Weltkrieges zu machen, indem er die innere Revolution ausrottete und gegen Osteuropa und die Sowjetunion zog. Durch die Vernichtung des Klassengegners im Inneren, und indem er die Bevölkerung in seine Verbrechen mit hineinzog, sie an der Ausbeutung anderer Völker partizipieren lassen wollte, wollte er den Klassenwiderspruch im Inneren dämpfen und stark genug werden, um dann doch eine zumindest in Europa dominierende Macht zu errichten.

International hatte die Naziregierung in den ersten Jahren eine große Unterstützung, wurden ihr die Bedingungen des Versailler Vertrages gelockert, der Weg zur Expansion freigemacht, als sie noch garnicht genügend für einen Krieg gerüstet waren, auch seitens von Mächten, die später zum Krieg mit Deutschland gezwungen waren und dann auch einen Beitrag zum Ende des Naziregimes leisteten. Auch im Zusammenhang mit dem Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion gab es Handlungen seitens dieser, die den Widerstand im Inneren schwächten. Das alles zu verwischen und die Deutschen pauschal zum Tätervolk zu erklären – bei aller Kritik, die durchaus angebracht ist – so im Grunde selbst völkisch zu argumentieren, ist Wasser auf die Mühlen der Rechten.

 

Noch andere Punkte, die sofort aufstoßen, und die ich deshalb herausgreife:

Bei den einfachen Teilnehmern auf dem Rosa-Luxemburg-Platz handelt es sich möglicherweise auch zum Teil um politisch naive und unbedarfte Menschen, die einfach mit den bestehenden Zuständen der Gängelung von Oben ein Problem haben. Das ist für sich genommen nicht das Schlechteste, besser als Untertanengeist, der zur Zeit allerorten sprießt. Man sollte diese Menschen nicht pauschal wegstoßen und den Nazis überlassen. Es gibt zwar in dem Artikel Ansätze in diese Richtung (siehe oben), aber das vereinbart sich nicht mit zumindest Undifferenziertheit gegenüber völkischen antideutschen Theorien.

Peter Nowak hat die Seiten gewechselt?
Woher nimmt der Verfasser das? Vielleicht war diese Sache nicht von Anfang an von gleichem Charakter und er hat sich getäuscht. Ich habe eine Publikation im Internet gefunden („Demokratischer Widerstand“), wo sein Beitrag enthalten ist. Die hat für sich genommen keinen so ultrarechten Charakter, und auch nicht sein Beitrag. Nicht daß man da nichts kritisieren kann und darf, aber so geht das nicht, jemanden so leichtfertig zum Parteigänger von Neonazis zu machen.

Anselm Lenz vertrat bis vor einigen Jahren linke Positionen?
Bis Mitte März dieses Jahres schrieb er noch in der TAZ, und er schrieb dort auch mehrfach für die Mieterbewegung. Das kann man leicht durch ein paar Klicks herausfinden. Nach rechten Positionen der beschriebenen Art sieht das nicht aus, was man da sieht. Wieso wird hier etwas erfunden? Auffallend sind Beziehungen zur Volksbühne, wo auch erste Initiatoren dieser Hygienedemos hergekommen sein sollen. Aber sein Zusammentreffen mit Ken Jebsen vor laufenden Kameras, wie er sich da verhielt, ist wirklich peinlich.

 

Da sich heute nicht nur die Klassen innerhalb der Länder differenzieren, sondern auch die unterschiedliche Stellung der Länder in die inneren Verhältnisse hereinspielt, es auch ausgebeutete und ausbeutende Länder gibt, was sich bis in die Arbeiter und untere Gesellschaftsschichten hinein auswirkt, wird es viel schwieriger, sich zu orientieren. Da verirren sich Leute auch bisweilen, wenn sie ausgetretene Pfade verlassen, an denen sie Seiten entdecken, die sie als kritikwürdig erkennen.

Eine starke gesellschaftliche Kraft wie die organisierte klassenbewußte Arbeiterbewegung der Vergangenheit, die vielen eine Orientierung gegeben hat, fehlt da heute hierzulande. Ich halte diese Perspektive immer noch für richtig, denn international gibt es diese wachsende Arbeiterklasse weiterhin, die sich nur befreien kann, indem sie die Klassen überhaupt abschafft. Da steckt grundsätzlich das nötige Potential, aber sie muß unter neuen Bedingungen international zusammenfinden. Eine Schaukelpolitik zwischen verschiedenen Gruppen der herrschenden Klassen, wenn man kein eigenes Potential hat, wird immer am Ende in einen Irrweg führen.

 

 

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