Internet Statement 2017-39/40

 

Eine Debatte über die Wahl in Frankreich und grundsätzliche Fragen der gegenwärtigen Situation

Wir geben hier zwei Statements aus der innerorganisatorischen Debatte wieder. Der erste Beitrag von Wassili Gerhard, „Mit Le Pen vom Regen unter die Traufe“, sollte eigentlich noch vor der Wahl in Frankreich erscheinen und ist auch überwiegend in dieser Zeit geschrieben, wurde dann aber erst am Wahlabend fertig. Er wurde dann trotzdem zur Diskussion gestellt, woraufhin eine Kritik seitens Maria Weiß erfolgte, die im zweiten Teil wiedergegeben ist: „Für die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg“ Wir halten es für sinnvoll, diese Beiträge hier zusammen zu veröffentlichen, da sie wichtige grundsätzliche Fragen der aktuellen Situation behandeln      

Redaktion Neue Einheit,  27.04.2017

 


Internet Statement 2017-39

 

Mit Le Pen vom Regen unter die Traufe 

Wassili Gerhard  23.04.2017   

Manche unken bereits, der jüngste Anschlag in Paris würde vor allem Marine Le Pen nutzen. Er wurde von der Präsidentschaftskandidatin Le Pen gleich zum Anlaß genommen, einen martialischen Appell loszulassen:

»"Ich rufe zum Erwachen der tausendjährigen Seele unseres Volkes auf, die in der Lage ist, der blutigen Barbarei eine Entschlossenheit entgegenzustellen, die durch nichts eingeschüchtert wird", so Le Pen. Sie wiederholte ihre Wahlkampfforderungen nach härteren Maßnahmen im Kampf gegen den Islamismus. So will sie alle Ausländer, die in einer Datei der Behörden als mutmaßliche Gefährder geführt werden, ausweisen.« ( http://www.focus.de/politik/ausland/wahl-in-frankreich-im-news-ticker-eu-parlamentsvize-gebhardt-anschlag-koennte-wahl-beeinflussen_id_6991129.html 21.04.2017)

Nun geht das aber weitgehend an den eigentlichen Problemen vorbei. Es wird zu Recht darauf hingewiesen, daß der Attentäter Franzose war. Die zugrunde liegenden Probleme sind vor allem innerfranzösisch, und die Beschwörung der „tausendjährigen Seele“ der Franzosen ignoriert eben genau, daß dieses heutige Frankreich sich erheblich vom Frankreich vor tausend Jahren unterscheidet. Und niemand kann interessiert daran sein, die Uhr so weit zurück zu drehen. Ein wirklich akutes Problem, das nicht ignoriert werden kann, sind die vielen heutigen Franzosen, die aus den ehemaligen Kolonien stammen, bzw. deren Vorfahren daher stammen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind. Schon in einem sehr wichtigen Artikel von 2005 analysierte unser damaliger Vorsitzender Hartmut Dicke bezüglich Frankreich:

»>Es ist hier eine große Masse entstanden, die weitgehend vom Arbeitsprozeß freigesetzt ist, die sich einer Diskriminierung seitens größerer Teile der französischen Gesellschaft ausgesetzt sieht, denn die Herkunftsländer sind noch zum großen Teil die ehemaligen Kolonien Frankreichs in Nordafrika, und in allen Ländern mit Kolonien blickt gerade das Kleinbürgertum herablassend auf die Angehörigen der früher kolonialen Länder. Diese Hintergründe kann fast niemand bei der Behandlung des Problems außer Acht lassen. Fast alle bürgerlichen Zeitungen schreiben über dieses Phänomen. Aber ebenso wenig wissen sie Abhilfe gegenüber den Grundlagen dieses Phänomens zu schaffen, sie existieren eben und müssen nach Ansicht der Meinungsmacher der bürgerlichen Öffentlichkeit wohl hingenommen werden.«

Und nachdem er darauf einging, wie sich bei diesem Bevölkerungsteil, der heute noch nicht einmal als industrielle Reservearmee bezeichnet werden kann, (die ist irgendwo anders auf der Welt) der in seiner Majorität völlig für überflüssig erklärt wird, mit der Zeit eine Parallelgesellschaft entwickelt hat, ähnlich wie auch in Deutschland, stellt er fest:

»In Frankreich existiert diese Parallelgesellschaft seit Jahrzehnten, und es stellt sich schon einmal die Frage, warum denn nicht versucht wurde, diesen gesellschaftlichen Teil in ganz anderem Umfang einzugliedern in die Ökonomie, in der Jugend das Bildungsniveau zu heben und an einer tatsächlichen Integration zu arbeiten.«

Diese Ausführungen behalten nach wie vor ihre Gültigkeit. Dieser Artikel, dessen Analyse heute, nach mehr als 10 Jahren, deutlich bestätigt wird, ist auch heute zum Verständnis der französischen Ereignisse hilfreich. Hartmut Dicke weist dort auch darauf hin, daß diese ausgegrenzten Angehörigen einer Parallelgesellschaft in besonderem Maße anfällig für die Propaganda bestimmter Kräfte des „Islamismus“, des „politischen Islam“ werden, was damals noch nicht so offen für jedermann ersichtlich war wie heute. Aber jetzt ist es deutlich erkennbar. Das Problem ist keineswegs nur eines ausländischer Terroristen, die auch selbst ohne einen gewissen Nährboden und ein Netz vor Ort, auf das sie sich stützen können, nicht so operieren könnten. Die heutige Beteiligung, noch verstärkt unter Hollande, am Krieg in Syrien, der mit der Massakrierung und Vertreibung von Hunderttausenden in diesem Land verbunden ist, ist noch weiteres Wasser auf diese Mühlen. Und der IS von heute, der als Vorwand dient, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der ausländischen Interventionen in der Region.

Die Propaganda einer Marine Le Pen geht aber in eine Richtung, dieses Problem eher weiter anzuheizen und auf Kosten eines Teils der Nation, für die sie doch angeblich so brennt, nämlich der Nachkommen der Einwanderer, nach einer angeblichen Lösung zu suchen. Ihre Ausdrucksweise „tausendjährige Seele“ der Nation scheint von einem völkischen Verständnis der Nation geprägt zu sein. Was ist dann mit Nachkommen von Einwanderern wie Sarkozy oder Aznavour? Über 20 % der Franzosen stammen von Einwanderern ab. Gerade Frankreich ist doch ein Ursprungsland eines modernen, nicht völkischen Verständnisses von Nation, das gehört zum wertvollen nationalen Erbe.

Gerade in Frankreich mit seinem Säkularismus sollte eine Lösung möglich sein. Eine Lösung der Probleme haben in Wahrheit aber die Bewerber alle nicht in ihren Programmen, denn die Entstehung einer „Parallelgesellschaft“ ist eng mit der Entwicklung des Kapitalismus in Europa verbunden, mit der Geschichte des Klassenkampfes und mit den Maßnahmen der herrschenden Klasse, mit denen sie der sozialen Revolution entkommen wollte. Die Politik einer Marine Le Pen ist ganz bestimmt nicht die Lösung. Abgesehen davon, daß eine solche Person, wenn sie in einer wichtigen Position sitzt, dann eventuell eine Entwicklung wie Trump machen könnte, der zwar auch den Gegensatz „zum Islam“ werbewirksam in den Vordergrund schiebt, aber mit den großen Sponsoren des „Islamismus“ Saudi Arabien, Qatar, Pakistan, ein gutes Verhältnis zu haben scheint. (zu den Muslimbrüdern, die immer in einer gewissen Nähe zu den USA auftauchen und in den USA einflußreich sind, hört man auch nichts). Welche politische Wundertüte sich da öffnen würde, weiß auch noch niemand.

Man erinnere nur an die Versprechen des ach so „linken“ Hollande, und was tat er, als er an der Macht war? Er ließ das neue Arbeitsgesetz per Ausnahmerecht durchpeitschen, das starke Einschnitte in die Rechte der Arbeitenden bedeutete, und besonders der Jugend, die ihr Arbeitsleben noch vor sich hat, alles angeblich unbedingt notwendig, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Doch gerade ein großer Teil der Jugend ließ sich vom Ausnahmezustand, dessen Wert gegen Terroranschläge höchst zweifelhaft ist, nicht davon abhalten, dagegen auf die Straße zu gehen.

Wir kennen das aus Deutschland, z.B. von Kohl und Schröder (wobei der Zweite auch völlig irreführend zuerst mit ganz anderen Parolen angetreten ist, etwa wie „unverschämt“ es wäre, Menschen nach einem langen Arbeitsleben die Rente zu kürzen), daß angeblich die Kosten des Kapitals verringert werden müssen, dann würden die auch Arbeitsplätze schaffen. Die heutigen Arbeitslosenzahlen sind zwar geringer, auch mit Hilfe vieler statistischer Tricks, durch die viele Arbeitslose aus den Statistiken verschwunden sind. Es gibt noch einen Teil, eine sogenannte Mittelschicht, der noch zu einigermaßenen Bedingungen arbeitet, der auch zur Stabilisierung des Systems notwendig ist, aber auch dieser bröckelt immer mehr ab, wächst sich auch „demografisch“ aus, was auch Unruhe in diesen Sektor bringt. Was sie geschaffen haben, ist vor allem ein deregulierter Niedriglohnsektor, in dem heute immer mehr, gerade auch Junge, unter prekären Bedingungen arbeiten. Ein Teil der Arbeitslosen wurde gleichzeitig völlig ins Aus gedrängt. Das ist natürlich nicht wirklich ein erstrebenswertes Modell für Frankreich, auch nicht die „moderne“ Politik, Minderheiten gegen die Mehrheit auszuspielen, um gegen die Mehrheit aus angeblich hehren Motiven Politik zu machen. In Frankreich hat man damit vor allem Vorlagen für die Rechte geliefert. Diese Dinge sollten auch Thema im Wahlkampf sein, aber hierzulande hört man zumindest nichts davon. Es ist also anscheinend weiter mit massivem Betrug zu rechnen.

 

 


 Internet Statement 2017-40

 

 Für die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg

 Maria Weiß   25./26.04.2017     

Ich würde die EU eher in dem Sinne kritisieren, daß man das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen kann. Le Pen versucht ihre Suppe darauf zu kochen, daß diese ganze Unterwanderung dort auch schon selber fortgeschritten ist und daß es auch in Frankreich sehr viele Menschen gibt, die damit nicht zufrieden sind. Darüber kann man nicht einfach hinweg gehen. Man kann nicht übersehen, daß sich seit 2005 auch in Frankreich der Islam und sein Einfluß ganz erheblich verstärkt hat. Das wird aber in dem Entwurf nicht berücksichtigt. Es reicht nicht mit einem Finanzkandidaten, der so abgehoben ist, daß er sowieso über diesen ganzen Problemen oben drüber schwebt und obendrein auch noch Ökologismus vertritt.

Bestimmte untere Schichten in Frankreich, die aus der Produktion rausgeworfen wurden, fühlen sich dort völlig unterrepräsentiert und im Stich gelassen und daran knüpft Le Pen mit ihrer Demagogie an. Und genau diese Entwicklung hat sich seit dem Jahr 2005 in Frankreich wahrscheinlich ähnlich wie bei uns und in ganz Europa erheblich zugespitzt, und daran kann man nicht vorbeigehen. Daraus muß man seine praktischen Schlußfolgerungen ziehen. Andere tun das, und wir machen es zu wenig.

Und mit so einem Entwurf erreichen wir meiner Ansicht nach eher das Gegenteil. Man kann doch diese Weiterentwicklung, die sowohl in Frankreich als auch bei uns seit 12 Jahren weiter stattgefunden hat, nicht ignorieren. Wenn man das tut, dann gibt man doch erst recht sowohl in Frankreich als auch hier den rechten Kräften Auftrieb. Im Gegenteil, man muß es berücksichtigen und zwar nicht in einer Weise, die die verschiedenen Seiten gegeneinander ausspielt.

Auch in Frankreich hat sich seit dem Jahr 2005 der Islamismus ganz erheblich breit gemacht, und genau darauf versucht die Le Pen ihre Suppe zu kochen. Wenn man das verharmlost, dann gibt man deren Absichten Auftrieb, nicht etwa bewirkt man das Gegenteil, nämlich die Schwächung dieser Rechten. Es ist ganz ähnlich wie beim Nazifaschismus. Da hat die KPD damals wahrscheinlich einen ähnlichen Fehler gemacht, und zwar von der allgemeinen Differenzierung her zu argumentieren, aber die Besonderheiten außer Acht zu lassen oder zu wenig zu berücksichtigen. Das ist immer gefährlich, das sollte man nicht machen,. Denn es geht nach hinten los.

Die ganze Formulierungsweise, mit der Le Pen kommt, nämlich „tausendjähriger Seele Frankreichs“ ist sowieso eine einzige Verhöhnung, eine unverschämte Anspielung an den Nazifaschismus. Die spielt regelrecht damit herum, und das muß man ihr vermiesen. Das tut man aber nicht, indem man deren Anknüpfungspunkt schön redet. Damit bewirkt man eher, daß es nach hinten losgeht. Von wegen „passt“. Meiner Ansicht nach passt es so nicht. Meiner Ansicht nach kann man eigentlich bloß zum Boykott dieser Stichwahl aufrufen, eventuell mit dem Zusatz, daß man Le Pen auf gar keinen Fall wählen sollte. Das ist richtig. Aber es muß auch richtig begründet werden. Allein die Tatsache, daß die überhaupt so viele Stimmen bekommen hat, daß sie in die Stichwahl gekommen ist, ist doch schon ein Beweis dafür, daß diese Problematik der Einwanderung in Frankreich nicht richtig angepackt wird von den Linken. 12 Jahre Weiterentwicklung sind eben 12 Jahre Weiterentwicklung und Verschärfung. Da kann man nicht davon ausgehen, als wäre die Situation noch die Gleiche. Das ist bekanntlich weder bei uns der Fall und erst recht nicht in Frankreich,

Bei uns ist es doch ganz ähnlich. Diese Scheiß-AfD ist doch kein Zufall, die uns jetzt auf der Nase herum tanzt. Daß die so viele Stimmen bekommt geschieht aus einem ganz ähnlichen Grund wie in Frankreich, warum dort Le Pen so viele Stimmen kassiert. Vielleicht sollte man daraus mal Schlußfolgerungen auch praktischer Art ziehen, und nicht aber einfach darüber hinweg quasseln. Sicherlich ist eine solche Stellungnahme richtig zu verfassen kompliziert. Und wenn das nicht immer perfekt gelingt, was ich durchaus nachvollziehen kann, oder vielleicht nicht schnell genug gelingt, dann sollte man lieber verzichten. 12 Jahre Weiterentwicklung und Verschärfung kann man aber nicht ignorieren, weder hier und auch nicht in Frankreich. Das hätte der in dem Entwurf zitierte Verfasser sicherlich nicht anders gesehen.

Man sollte auch nicht außer acht lassen, daß eine ganze Reihe tödlicher Anschläge von Islamisten gerade in Frankreich stattgefunden haben. Das ist kein Zufall. Das Finanzkapital und seine Lobby wird daran weder etwas ändern können noch wollen. Eine gewisse Gegensätzlichkeit zu eben diesem ist in dieser Handschrift, wenngleich man sie nicht rechtfertigen und schon gar nicht unterstützen kann, sondern verurteilen muß. Nicht zu übersehen ist: Kräfte wie Le Pen versuchen natürlich genau diesen Punkt der Rolle Frankreichs in der Geschichte mitsamt ihren ganzen Vorzügen und Entwicklungen, wie zum Beispiel einer eigentlich unverletzlichen Laizität, dagegen auszuspielen. Was auch, nebenbei bemerkt der europäischen Strategie Russlands entgegen kommt.

Ich habe jedenfalls keine Lust, einen Islamismus und seinen Einbruch in Europa zu fördern, und sei es auch nur indirekt. Nicht umsonst ist diese Religion die letzte gewesen, und vielleicht ist es auch die letzte, die so etwas noch mal schafft, um die soziale Revolution zu verhindern oder dieser durch einen nächsten imperialistischen Krieg zuvorzukommen.

 

Fortsetzung einen Tag später:

Die EU ist keine heilige Kuh. Für mich zählt, was für den sozialen Fortschritt förderlich ist und das ist die EU schon lange nicht mehr, im Gegenteil, sie ist es immer weniger. Wenn man zum Beispiel unser eigenes Land nimmt, den Fakt, daß Deutschland am allermeisten von dieser Europäischen Union profitiert, vor allen Dingen wirtschaftlich wie eine fette Blase auf dem ganzen Ding drauf sitzt und im eigenen Land alles mit Bestechung ersticken kann, kann es eigentlich nicht in unserem Interesse sein. Vielleicht sollte man über diese Frage einmal diskutieren. Hartmut Dicke hat selbst immer vertreten, daß man Dinge immer wieder neu durchdenken muß und hat das auch Zeit seines Lebens so praktiziert. Falls vielleicht jemand meint, aber das widerspricht doch diesem oder jenem: Das ist egal, man muß es hinterfragen. Man muß alles immer wieder neu hinterfragen, da gibt es keine Ausnahme. Dieses Prinzip vor allen Dingen ist es, was Hartmut Dicke immer verteidigt hat und selbst auch so praktiziert hat. Selbst wenn man vielleicht erst mal noch keine unmittelbare Antwort findet, die Fragestellung aber sollte man präsentieren, denn diese drängt sich gerade auf Grund der Entwicklung in den letzten zehn Jahren, unter der Merkel-Regierung, wirklich auf.

Man muß die Dinge immer wieder neu analysieren. Die so genannten Besserverdienenden hierzulande profitieren natürlich von dieser Entwicklung. Auch wir profitieren davon. Die Frage ist aber, ob das auf die Dauer wirklich noch dem Fortschritt dient oder vielleicht eher nur dem Erhalt des Bestehenden, und das bedeutet automatisch Rückschritt. Das oberste Prinzip von Hartmut Dicke war immer, alles zu hinterfragen, und zwar auch immer erneut, immer neu zu hinterfragen und nicht auf einmal Erreichtem zu verharren.

Eigentlich habe ich es schon in meiner kurzen Stellungnahme zu Europa angedeutet. Nein, es war und ist kein oberstes Prinzip für uns, für Europa zu sein. Nicht ohne Grund organisiert die Bourgeoisie zur Zeit allwöchentlich Pro-Europa-Demos, weil sie ganz genau weiß, daß es viel Unmut und viel berechtigte Kritik daran gibt. Die allererste Reaktion darauf ist nicht selten die: ist doch gut. Die Frage, die man stellen muß, ist aber: für wen? Und ob es da nicht gewisse Veränderungen gegeben hat und gibt.

Natürlich ist es nicht im Interesse der überwiegenden Mehrheit, des Proletariats vor allen Dingen, wenn in Frankreich ein rechtes Regime, ein faschistisches Regime an die Macht käme. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das tatsächlich jetzt schon der Fall ist und ob nicht der latente Faschismus, der auf Korruption und „Wohlhabenheit“ beruht, nicht auf die Dauer ebenso schlimm ist, weil er besser imstande ist, die revolutionären Kräfte in Schach zu halten, indem er Illusionen vorgaukelt, die auf der Ausbeutung der Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt basieren.

Sicherlich hat die Europäische Union historisch betrachtet große Verdienste. Sie hat nicht zuletzt bewirkt, daß zwischen dem Ende des letzten Weltkriegs und heute eben 70 Jahre liegen, in denen in Europa selbst, nimmt man die Balkankriege in den 1990iger Jahren mal aus, kein umfassender universaler Krieg stattgefunden hat. Trotzdem darf man nicht vergessen, auf welcher Grundlage das eigentlich auch mit steht. Es steht eben zugleich auf der Grundlage von 70 Jahren fortgesetzter und verschärfter Ausbeutung, und zwar zunehmend einer weltweiten, wovon nebenbei keineswegs alle Staaten der EU in gleicher Weise profitieren. Ganz im Gegenteil. Deutschland profitiert zum Beispiel gegenwärtig am meisten davon. Und gerade deswegen ist es auch für revolutionäre Kräfte in Deutschland unabdingbar, genau diesen Punkt aufs Korn zu nehmen. Wer wären wir denn sonst?

Dies war unter anderem ein Grund, warum ich gegenüber solchen Entwürfen, die diesen Punkt nicht genügend berücksichtigen, skeptisch bin. In Frankreich stinkt es immer mehr Leuten, daß sich der politische Islam dort immer weiter vorschiebt, ganz ähnlich wie bei uns. Und das erzeugt naturgemäß Widerstand. Und diesen Widerstand kann man nicht als rückschauend und reaktionär betrachten, der ist berechtigt. Nicht jede Bewegung hat immer ein perfektes Klassenbewusstsein. Das zu verstehen bereitet auch bei uns manchen Menschen Probleme. Kritik muß, sofern sie sachlich begründet ist, erlaubt sein. Ich plädiere natürlich nicht, daß Le Pen in Frankreich an die Macht kommt. Davon bin ich weit entfernt. Aber daß ich dieses Fettklops-Deutschland mitsamt der dazu passenden Regierung im Sinne der EU verteidige? Ich denke gar nicht daran. Interessanterweise sind es ja nicht gerade die Staaten, denen es besonders gut geht in der EU, die den Austritt wünschen, sondern im Gegenteil es sind eher die, in denen es vielen Menschen dreckig geht, und das hat mit Sicherheit seinen berechtigten Grund. Das sollte man sich einmal durch den Kopf gehen lassen.

Man darf auch nicht vergessen, daß die gesamte EU ein Zusammenschluß bürgerlicher Staaten mit bürgerlichen Regierungen ist, welcher nicht vorwiegend etwas mit den Belangen des Proletariats zu tun hat. Und wenn eine solche Einrichtung dazu dient, den Klassenkampf in seinen Mitgliedsstaaten zu ersticken oder wie in Deutschland regelrecht im Fett zu ertränken, dann muß das hinterfragt werden. Und da kann man auch nicht mit dem Argument kommen: Le Pen ist doch viel schlimmer. Nein. Das ist nicht das, was gegenwärtig dabei die Hauptsache ist. Sicherlich ist Le Pen eine potentiell faschistische Kraft, aber man kann dem nicht von vornherein alles, was wichtig ist, und erst recht nicht die Hauptsache, den Klassenkampf opfern, sondern muß nach Möglichkeiten suchen, beides miteinander in Einklang zu bringen. Die KPD zum Beispiel hat nicht deswegen gegenüber dem Nazifaschismus versagt, weil sie zu viel Klassenkampf geführt hat, sie hat versagt, weil sie ihn nicht richtig geführt hat, indem sie notwendige Koalitionen mit bürgerlichen Kräften übersehen hat. Daraus sollten wir heute lernen.

 

 

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Dieser Text von 2005 ist zur Einschätzung der heutigen Lage in Frankreich nach wie vor aktuell und hilfreich:
Zur Analyse der französischen Ereignisse
Hartmut Dicke
 Nov. 2005


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