Internet Statement 2016-51

 

 

Türkei: Ausnahmezustand in einem Land, wo schon während der sogenannten „Demokratie“ der Staatsterror wütet

 

Wassili Gerhard   20.07.2016    

Erdogan hat heute Abend einen dreimonatigen Ausnahmezustand ausgerufen. Der Militärputsch sei „vielleicht noch nicht vorbei“, es könne „weitere Pläne“ geben. Das Krebsgeschwür habe Metastasen, der Virus müsse gründlich entfernt werden. Ausnahmezustand in der Türkei ist etwas anderes als z.B. in Frankreich. Der Ausnahmezustand in Frankreich ist zwar auch ein Skandal, genauso wie das Regieren per Dekret, das dort stattfindet, aber in der Türkei hat das noch ein ganz anderes Kaliber. Dort konnte schon während der sogenannten „Demokratie“ jemand von der Polizei abgeholt werden und danach verschwunden bleiben. Oder mißliebige Personen konnten Attentaten zum Opfer fallen, die verdächtig nach Staatsverbrechen aussahen. Das war auch schon vor Erdogan so. Das wurde hier nicht in dem gleichen Maße zur Kenntnis genommenAnm.1, wie zurecht ähnliches bei Putin. Nicht zu reden von teilweise gesetzlosem Terror in den Kurdengebieten, wo dem Militär im Juni für alle Taten „im Antiterrorkampf“ Straffreiheit zugebilligt wurde. Es war von vornherein lächerlich, Erdogan als den „Retter der Demokratie“ darzustellen.

Erdogan beruft sich auf einen Artikel der Verfassung, Artikel 120, der nach dem „Spiegel“ beinhaltet:

» Dieser erlaubt den Schritt bei "weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder bei einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung".«
. . .
» Unter dem Ausnahmezustand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit können ausgesetzt oder eingeschränkt werden, Behörden können Ausgangssperren verhängen, und Medienberichterstattung kontrollieren oder verbieten. « (
http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-verhaengt-drei-monate-ausnahmezustand-a-1103982.html )

Die vorherigen Putschisten sind ausgeschaltet, Verhaftungswellen und Entlassungswellen rollen durch das Land. Erdogan behauptet einfach, daß die Voraussetzungen gegeben seien, wer traut sich heute, ihm öffentlich zu widersprechen? Unzufriedenheit mit Erdogans Kurs Richtung Islamische Republik neuen Stils wird zu Gülenismus erklärt und ist damit subversiver Putschismus. Und die Opposition à la Gülen ist schon eine Opposition, die selbst den Anspruch erhebt, islamisch zu sein. Was ist dann eine nicht islamische Opposition? Terrorismus? (In Saudi-Arabien ist das herrschende Doktrin.) Erinnern wir uns an die merkwürdige Definition von Terrorismus à la Erdogan, wo schon die Kritik an Staatsterror, und sei es nur in Gestalt der Unterzeichnung einer Petition, als Terrorismus geahndet werden sollte. Das hat er auch schon durchgesetzt. Wenn nun Erdogan mit dem Ausnahmezustand regieren kann, dann können wir uns auf einiges mehr gefaßt machen.

Erdogans Putsch folgt einer perfiden Logik. Erst haben er und seine Mittäter es irgendwie zustande gebracht, daß so ein schlecht vorbereiteter und dilettantischer Putschversuch ausgeführt wurde, der sich auf einen kleinen Kreis von nicht sehr hochrangigen Offizieren im Militär stützte, angeblich eine „WhatsApp-Gruppe“. (siehe beispielsweise „What went wrong with Turkey's WhatsApp coup http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/07/turkey-coup-attempt-basic-cause-was-premature-birth.html) Die meisten Akteure waren sowieso Wehrpflichtige, die garnicht überblickten, für was sie benutzt wurden und einfach Befehlen folgten. Wie bekannt wurde, soll der Geheimdienst schon vorher Informationen darüber gehabt haben und hätte das ganze im Keim ersticken können. Aber man ließ die Putschisten aufmarschieren, brachte sie dazu, verfrüht und panisch zu agieren und schuf die Schimäre einer angeblichen Bedrohung für Erdogan, der er angeblich nur knapp entkam, um seine Anhänger auf die Straße zu bringen. Erdogan rief seine Anhänger über CNN-Türk dazu auf, auf die Straße zu gehen, die Muhezzine verbreiteten es von den Minaretten und die Anhänger Erdogans wurden mobilisiert.

Jetzt wird das Debakel wie ein lange und gut geplanter Militärputsch mit einem weitverbreiteten Verschwörernetz behandelt, dem man nur gerade mal so entgangen sei. Was jetzt kommt, läuft alles tatsächlich nach einem lange vorher vorbereiteten Plan ab. Wahrscheinlich ist es so: So wie vorher jemand, der Erdogans Politik radikal kritisierte, mit einem Terroristen gleichgesetzt wurde, so wird jetzt jemand mit einem Putschisten gleichgestellt und als „Gülenist“ hingestellt werden, der gegen Erdogans Politik ist, der eine Demokratie will, die wirklich den Namen verdient, wozu in der Tat die jetzige Führung abgesetzt werden müßte. Das kann man in der Türkei heute nicht mehr öffentlich sagen, ohne Gefahr für Leib und Leben befürchten zu müssen. Ein Wink von Erdogan, und ein aufgepeitschter Mob wird in Bewegung gesetzt, worunter auch fanatisierte Moslems sind, die bei einem Hinweis, daß jemand „gottlos“ sei, das Messer zum Halsabschneiden herausholen. Und darum wird das nicht jeder, der so denkt, öffentlich sagen. Aber genau das wird dann als Beweis genommen werden, daß er zu den subversiven Elementen gehöre, daß er eine „Metastase des Krebsgeschwürs“ sei, ein „Virus“, während nur die völlige Unterordnung unter Erdogan, den „Führer der wahren Türken“, dazu qualifiziere, zum „gesunden Volkskörper“ zu gehören. Eine solche Rhetorik ist uns bei Faschisten wohlbekannt. Damit sind säkular gesonnene Türken, Demokraten, die den Namen verdienen, Kurden, die nicht einmal PKK-Anhänger sein müssen, geschweige denn Aktivisten der Arbeiterbewegung und Kämpfer für eine soziale Revolution von Staatsterror bedroht, obwohl auch sie natürlich keinen Militärputsch wollten und damit nichts zu tun hatten.

 

 


1  Ich kann mich noch an ein Attentat vor nicht langer Zeit erinnern, Opfer war der Erdogan-kritische Anwalt Tahir Elçi. Es gibt einen Film bei Youtube, auf dem angeblich die Polizei auf die Attentäter schießt. Man sieht, daß die Polizei nicht mit scharfer Munition schießt, die Schüsse aus nächster Nähe richten nichts aus. Danach tauscht ein Polizist deutlich sichtbar seine Waffe aus. Zu diesem Zeitpunkt ist das Mordopfer noch am Leben, kurze Zeit danach ist es tot. Ein regelrechtes Schmierentheater, aber ein brutales. Link zu dem Film:
https://www.youtube.com/watch?v=2Ts03OVAFqk               zurück zum Text

 

 

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