Internet Statement 2003-51

 

Zur Demonstration 1.November 2003

Gehen wir nach Berlin!

Es ist soweit: die zentrale Demonstration gegen den sozialen Kahlschlag am 1. November in Berlin soll endlich ein Zeichen setzen, daß Gegenwehr aufgebaut wird. Wer in der Öffentlichkeit mobilisiert, kann die Empörung in der Bevölkerung über die Regierung und das politische System deutlich spüren.

Gehen wir nach Berlin und konfrontieren wir die Schröder und Fischer, Merkel und Stoiber, Hundt und Rogowski mit den Fragen, denen sie mit ihren verlogenen Reformtiraden noch immer ausweichen:

  • Ist der von Ihnen geführte Staat mit Tausenden von Milliarden Schulden etwa nicht längst mehrfach bankrott?
  • Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß der Bankrott abgewendet wird, wenn bei Löhnen und Sozialleistungen immer mehr abgeknapst wird, wenn die Versicherungsbeiträge und die Abgaben immer größer werden und Millionen Menschen in die offene Armut fallen?
  • Fehlen den einzelnen Sozialsystemen, der Arbeitslosenversicherung, Rente, Sozialhilfe, Krankenversicherung nicht inzwischen jährlich -zig, wenn nicht hunderte von Milliarden Euro, nur für den laufenden Betrieb? Reicht die tatsächlich produktive Wirtschaftskraft des Landes, so wie sie von Ihnen in den letzten Jahrzehnten verformt und vermindert worden ist, zur Bewältigung dieser Aufgaben unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt noch aus? Glauben Sie an einen Himmel, der Ihnen zehn Jahre Hochkonjunktur und entsprechende Einnahmen schickt? Auch das würde nicht reichen.
  • Gibt es etwa keine weltweite kapitalistische Krise, die zusammen mit dem ganz speziellen Bankrott Deutschlands in den nächsten Jahren noch mehr Depression erzeugen wird? Daß Sie die Massenkaufkraft mit Ihren „Reformen“ direkt weiter mindern, kommt da noch hinzu. Steuern auf Kapital! sagt Herr Lafontaine. So etwas wird vom Kapital heute doch gar nicht mehr ernstgenommen, seitdem es in so viele Niedrig-Steuer-Länder wandern kann.
  • Wird nicht längst in Hinterzimmern an Plänen gearbeitet, wie die Sozialleistungen noch viel stärker reduziert werden, ja, wie Sie Millionen von „überflüssigen Essern“ regelrecht loswerden können, wie Sie, vielleicht durch Finanzmanipulationen und –krisen auch die mittleren Schichten enteignen können?
  • Trifft es nicht zu, daß der Kapitalismus heute weltweit da investiert, wo er die niedrigsten Löhne und gleichzeitig die produktivsten Rahmenbedingungen findet, bspw. im kapitalistisch boomenden China, aber nicht hier? Erklärt er nicht den arbeitenden Menschen in Ländern wie Deutschland: entweder ihr geht mit den Löhnen und den Sozialleistungen herunter, zunächst einmal mit Hartz und Agenda, im weiteren aber auf polnisches und ukrainisches Niveau - oder wir machen hier noch viel mehr Betriebe dicht? Wie sollen unter diesen Bedingungen Versprechungen vom „Erhalt der Sozialsysteme“ verwirklicht werden? Zumal Sie selbst sich diesen kapitalistischen Praktiken gegenüber nicht nur für machtlos erklären, sondern sie sogar fördern? Fördern Sie nicht selbst die weltweite Ausspielung der Länder und der Belegschaften gegeneinander, um hier „das Anspruchsdenken“ auszuhebeln (außer Ihrem eigenen natürlich)?
  • Wollen Sie bestreiten, daß Sie und alle vorhergehenden Regierungen den Staat und die Sozialsysteme sehenden Auges in die Pleite geführt haben, vor allen Dingen, um der Bevölkerung noch möglichst lange auf Pump eine soziale Absicherung vorzuspiegeln, die vom Kapital in Wirklichkeit längst aufgekündigt ist? Hinzu kommen noch die Korruption Ihres Systems und der Appetit des Kapitals auf die Staatskassen.
  • Ist es nicht so, daß das Kapital mit seiner heutigen weltweiten krassen Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft die Abwärtsentwicklung der Löhne und die Verweigerung selbst elementarer Sozialleistungen ganz allgemein, und jetzt auch hier, erzwingen will? Trifft es nicht zu, daß Sie die Bevölkerung über diesen Druck des Kapitalismus hinwegzutäuschen versuchen?
  • Waren Sie, wie auch die vorhergehenden Regierungen, nicht selbst massiv daran beteiligt, das Land wirtschaftlich auszuhöhlen, und haben Sie nicht selbst, bspw. mit Ihren Öko-Kampagnen, die Produktion noch zusätzlich aus dem Lande getrieben?

Die wirkliche Lage muß in die öffentliche Diskussion! Und wir sind der Meinung, daß so manche gewerkschaftliche und politische Gruppe, die die Demo unterstützt und meint, mit ein paar neuen Gesetzen ließe sich das alles schon bewältigen, diese Diskussion gleichfalls noch vor sich hat.

Vor einundeinhalb Jahren, als mit dem „Hartz-Konzept“ das Ausmaß der sozialen Entrechtung erkennbar wurde, die von dem herrschenden System betrieben wird, haben wir mit als die erste Gruppe dagegen mobilisiert. Wir haben gesagt, daß es einen solchen Angriff in der ganzen Geschichte der BRD noch nicht gegeben hat, und gleichzeitig immer die Aufmerksamkeit für die internationalen Verhältnisse gefordert. Dieser Angriff rührt aus dem internationalen System extremer räuberischer Ausbeutung her, das sich das Kapital in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat, mit diesem Angriff beginnt diese Ausbeutung jetzt auch auf bisher privilegierte Länder wie Deutschland zurückzuschlagen. Daher kann nur in der Verbindung mit dem internationalen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung berechtigt und erfolgsorientiert gegen die soziale Entrechtung hier vorgegangen werden. Wenn –zig Millionen Arbeiter in vielen Ländern, die heute große Teile der Weltproduktion machen, von wenigen $ oder noch weniger am Tag leben und jede Unterdrückung gewerkschaftlicher Aktivität hinnehmen müssen, kann das von den Werktätigen hier nicht mehr übergangen werden. Es gibt keinen sozialen Kampf ohne die entscheidende Beteiligung der Betriebe, wo die direkten Kontrahenten des Kapitals Druckmittel in der Hand haben - wenn sie wollen -, und es gibt auf die Dauer keinen erfolgreichen Arbeiterkampf ohne den Aufbau internationaler Solidarität.

Wir sind keine Anhänger der Parole: "Es ist genug Geld da, nur in den falschen Händen." Das erfaßt nur kleine Teile der Realität. Ein kapitalistisches System wird nie damit aufhören, den gesamten gesellschaftlichen Reichtum als Kapital zu beanspruchen, zumal die internationale Konkurrenz ihm gar keine andere Wahl läßt. Mit solchen Slogans verbindet sich auch die Vorstellung eines relativ einfachen Kampfes: machtvolle Demonstrationen zwingen die Regierung, die dann ihrerseits das Kapital durch Gesetze zwingt, das Geld herauszurücken, das den Sozialsystemen fehlt. Das wird aber nicht geschehen. Das Kapital wird ungeachtet der Proteste das Geld aus den unteren und mittleren sozialen Schichten an sich reißen, wie mit den jetzigen Reformen begonnen, und es versteht dafür zu sorgen, daß keine weichen Regierungen dumme Gesetze machen. Die Anhänger solcher Slogans sind kaum mehr als lautstarke Appellierer an den Staat. Hier sind aber keine Appelle gefragt, sondern nur eigene Kraft, und daher müssen die Betriebe und Gewerkschaften ins Zentrum der Strategie, und es muß die Verweigerung aufhören, den internationalen Zusammenhang aufzuzeigen und internationale Solidarität zu erarbeiten. Wer sich auf solche Parolen beschränkt, läuft Gefahr, das Gegenteil zu tun: mit einem Staat gemeinsame Sache zu machen, der die internationale Ausbeutung zu steigern versucht, um hier politische Beruhigung durch Sozialleistungen zu schaffen.

Die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Organisationen und Gruppen, die bei der Demonstration im Vorfeld zu einigen Schwierigkeiten geführt haben, sind in unseren Augen kein Zufall und unter anderem von den politischen Schwächen der allermeisten linken Gruppen und der Gewerkschaften her programmiert. Fast alle haben die radikale Verminderung und Zerspaltung der Arbeiterklasse, die die herrschenden Kreise in diesem Land seit fast drei Jahrzehnten betreiben, ausgeklammert, sie haben dem Wachsen des internationalen Proletariats in dieser ganzen Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt und kaum Solidarität entwickelt, sie haben selbst bei vielen Ökokampagnen mitgewirkt und so den herrschenden Kreisen bei der Umwandlung in die “Dienstleistungsgesellschaft“ geholfen, in der das Kapital weniger Gegenkräfte hat. Heute stehen sie ohne ökonomisches Konzept da und können nicht viel Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung beanspruchen. Werden die falschen Stellungen nicht bekämpft, dann werden diese Gruppen in weiteren Zerwürfnissen sich selbst noch mehr aufreiben und sich dem Staat in die Hand geben.
Die Erfahrungen mit Hartz, Agenda 2010 usf. können jedoch unserer Ansicht nach auch den selbstkritischen Realismus in den Gewerkschaften und in der Linken fördern, die internationale Perspektive öffnen und so zu mehr sachlicher Einheit hinlenken.

Redaktion Neue Einheit
Walter Grobe
29.10.2003

 

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